Ukraine_Tagebuch_2015, Tag 04

Heute ist das Programm richtig losgegangen. Wir haben die Gedenkstätte Bykivnya besucht, einer der vielen Stätten des stalinistischen Terrors. Dort liegen die sterblichen Überreste von 30.000 bis 50.000 Ermordeten.

Eines ist mir hier noch einmal richtig klar geworden: die Osteuropäer haben JEDES Recht auf ihre Interpretation der Geschichte, auch wenn dies manchmal mit unserem Geschichtsverständnis kollidiert. Sie haben JEDES Recht darauf, zu sagen, daß sie nicht nur nicht befreit, sondern daß sie auch von 1945 bis 1989 erobert, kolonisiert, deportiert, ermordet wurden.

Und sie haben auch jedes Recht, Sowjets und Nazis nicht nur zu vergleichen, sondern gleichzusetzen. - Für die Vorbereitung von Mordaktionen saßen die Henker von NKWD und SS gemeinsam am Tisch, planten und  steckten ihre Claims ab.

 

 

Dieser Eintrag hätte ohne den hervorragenden Vortrag von Gerhard Gnauck nicht geschrieben werden können.

 

"Wir treffen uns an einem Ort, an dem sich zwei Traditionslinien kreuzen: Der russische Autoritarismus und die marxistische Utopie." (Gerhard Gnauck, Journalist und Historiker)

 

Bis 1987 galt der Wald von Bykivnya als Mordstätte der Deutschen. 1987 erschien die erste Untersuchung, die feststellte, daß "die Unseren" die Mörder waren und nach 1989 war nichts mehr unter der Decke zu halten. In den Zeitungen erschienen massenweise Berichte, Erinnerungen und Bilder, in dem Opferfamilien, die jahrzehntelang hatten schweigen müssen, ihr Schweigen brachen und klar sagten, daß ihre Lieben nicht von den "faschistischen Eroberern", sondern von "den Unseren" umgebracht worden waren. Dem NKWD - auf Befehl des Politbüros.

 

Einige Daten:

 

Vor dem "Großen Terror" gab es eine Einleitung: in der "Polenoperation" wurden 111.000 ethnische Polen umgebracht. Timothy Snyder hat das in seinem Standardwerk, "Bloodlands" ausgiebig beleuchtet. Hinter all den Zahlen steht unermessliches Leid.

 

Dann wurde die ukrainische KP enthauptet und 200 ihrer Spitzenmitglieder umgebracht. KP-Chef Stanislaw Kossior, ebenfalls zufällig ethnischer Pole und einer der Verantwortlichen für den Holodomor, blieb unter der Folter so lange standhaft, bis man seine Nichte vor seinen Augen vergewaltigte. Danach unterschrieb er das verlangte Geständnis und wurde umgebracht. Die Nichte beging Selbstmord.

 

Es gibt in Bykivnya 4 große Opfergruppen:

  1. Die Opfer des Großen Terrors, etwa 30.000
  2. In Katyn ermordete Opfer
  3. 3.000 von den Deutschen ermordete italienische Soldaten
  4. Von der Roten Armee ermordete, "desertierte" Rotarmisten; ich vermute, die sind bei den großen Kesselschlachten - in und um Kyiv fand die größte Schlacht der Weltgeschichte statt - in den Maschen des verbrecherischen Befehls 270 vom 16. August 1941 hängengeblieben.

Der Terror gegen die Polen ging 1940 mit einer Notiz von Geheimdienstchef Berija am 2. März 1940 an Stalin weiter: die polnischen Gefangenen in der Gewalt der Roten Armee seien erklärte Feinde des Volkes, die auch nicht geheilt werden könnten. Er schlage vor sie ohne Gerichtsverfahren zu erschießen. Wenige Tage später stimmte das Politbüro zu.

 

Zu dieser Zeit fanden regelmäßig gemeinsame Sitzungen von NKWD und SS statt, auf denen beide Organisationen sich möglicherweise über ihre jeweiligen Mordaktionen informiert haben. Zur gleichen Zeit, als die Sowjets ihre 22.000 polnischen Opfer unter anderem in Katyn - es gab 3 Mordstätten - umbrachten, ermordeten die Deutschen in ihrem Besatzungsbereich 6.000 Polen.

 

Zu den ermordeten Künstlern zählt der Maler Myhailo Boitschuk, der sogar von  Picasso geschätzt wurde. Sein Folterer fragte ihn:

"Du warst in Paris, was wolltest Du da?" - "Den Louvre sehen." - "Wer ist das?"

 

Die Wissenschaftlerin, die uns freundlicherweise begleitet hat, hat uns noch erzählt, daß Boitschuks geschiedene Frau sich beim Verhör kein böses Wort über ihren Exmann hat entlocken lassen. Zu einer Zeit, in der ein Pawlik Morosow ein role model war, wahrlich bemerkenswert.


Die Aufarbeitung fing 1989 an, als Gorbatschow dem damaligen polnischen Machthaber, General Jaruzelski, Unterlagen übergab, die die sowjetische Schuld am Massaker von Katyn eindeutig belegte. In der TASS erschien eine Erklärung, daß die Sowjetunion dieses Verbrechen bedaure. Es wurd allerdings auf den Stalinismus abgeschoben.


Polnische Archäologen fingen - nicht nur in Bykivnya - an zu graben. Da konnte auch die Ukraine nicht anders. Polen stiftete 1,5 Millionen, die Ukraine 1,0 Million Euro, der Friedhof wurde mit einem ukrainischen und einem polnischen Teil errichtet. 2012 weihten die Präsidenten von Polen und der Ukraine, Komorowski und Janukowitsch die Gedenkstätte gemeinsam ein.


"Alle Wahrheit liegt in den Archiven", sagte uns die Wissenschaftlerin, die uns begleitet hat. Noch bis vor 3 Jahren sei die Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen in Moskau erfreulich und unkompliziert gewesen. Seit 3 Jahren blieben wieder so manche Türen verschlossen ...


Die Menschen in den Boodlands - nicht wir! - haben jedes Recht, Nationalsozialismus und Stalinismus gleich zu setzen. Sie zu schulmeistern steht uns nicht zu. Auch in der aktuellen Flüchtlingsdebatte sollte man sich daran erinnern!