Diese Geschichte habe ich schon mehrfach veröffentlicht und jetzt noch mal nach aktuellen Quellen überarbeitet. Es ist die Geschichte eines meiner größten persönlichen Vorbilder, Prinzessin Noor un-Nisa Inayat Khan, die als britische Geheimagentin "Nora Baker" in Dachau ermordet wurde. Die Geschichte hat was: die Urenkelin eines Mahradjas und Tochter eines Sufi-Meisters geht zum Geheimdienst und springt mit dem Fallschirm über dem besetzten Frankreich ab ...
Am 14. September jährt sich ihr wahrscheinlicher Todestag zum 71. Mal.
Noor
un-Nisa Inayat Khan wurde als ältestes Kind des indischen Sufi-Lehrers Hazrat Inayat Khan und seiner Ehefrau Ora Ray Baker am 2. Januar 1914 im Kreml in Moskau geboren, wo sich ihre Eltern auf Einladung des Zarenpaares
aufhielten .
Ihr Vater war ein Nachkomme des Moghul-Fürsten Tipu Sultan, des „Tigers von Mysore“, eines Zeitgenossen Napoleons. Im weiteren Stammbaum finden sich Krieger, Musiker und Literaten - ein Umstand,
der nicht nur ihn, sondern auch alle vier Kinder prägte. Hazrat Inayat Khan kam - von seinem Meister aus der Chishti-Tariqat gesandt - in den Westen und heiratete in Amerika Ora Ray Baker, die aus einer tief religiösen amerikanischen Familie stammte. Eine entfernte Verwandte von ihr war Mary Baker Eddy,
die Begründerin der Gemeinschaft der Christlichen Wissenschaften.
Bildnachweis.
Obwohl muslimisch, hatte die Familie über Generationen engen Kontakt zu Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften - ein Umstand, der nicht nur Hazrat Inayat Khan und seinen Sohn Pir Vilayat
Khan, und dessen Sohn, den heutigen Pir (Scheich) des Sufi-Ordens des Westens, sondern auch Noor prägen wird.
Sie wächst mit ihren drei Geschwistern im Wirkungskreis des Vaters und mit seinen Lehren auf: dass durch die verschiedenen religiösen Wege Ein Licht strahlt, das reine Licht des Einen Gottes,
unterschiedlich gefärbt im Filter des menschlichen Geistes. Noor wird sich Zeit ihres Lebens den Lehren ihres Vaters verpflichtet fühlen, besonders einer: Lüge niemals!
Ihre Mutter verschleiert sich
und verfasst 1915 für das vom Vater herausgegebene Periodikum diesen Artikel zur Erklärung von Schleier und Geschlechtertrennung:
Hazrat Inayat Khan, Amina Begum, die Kinder und zwei Brüder des Vaters. Bildnachweis.
Gott verbirgt sich in der Vision, die Wahrheit ist unsehbar, die Seele ist im Körper verborgen und die Liebe im
Herzen. Genauso wird die Frau um all dessentwillen, was aufgrund ihrer eigenen Natur kostbar ist an ihr, vor den Augen des Mannes geschützt.
Wir im Westen finden es seltsam in dieser ach so zivilisierten Zeit, wenn wir vom Brauch der Purdah und Zenana hören, der in Indien üblichen strengen Absonderung und Verschleierung der Frauen.
Doch wenn wir weiter darüber nachdenken, so finden wir hier das gleiche Prinzip vor, dem nicht nur jene Mystiker folgen, die ihre Lippen verschließen, sondern auch jene, die sich in Hütten und
Höhlen abschließen, um Gott besonders nahe zu sein.
Die Khalifen und Herrscher vergangener Zeiten verschleierten ihre Gesichter, um ihre Ausstrahlung und ihr Charisma zu schützen, und selbst heute setzen sich die Fürsten in Ost und West, genau wie
andere wichtige, Persönlichkeiten, weniger fremden Blicken aus, als allgemein üblich.
Ein anderer Nutzen des Zenana-Prinzips liegt in der Verantwortung der Mutterschaft. Die Mutter formt das Kind und seinen Charakter, und somit ist es nötig, dass sie sich, während sie diese
Aufgabe wahrnimmt, von der Welt zurückzieht und all deren negative Eindrücke, Ängste und Sorgen von sich fernhält, damit sie ihrem Kind nichts als Liebe, Harmonie und Schönheit leben kann. In
dieser Zeit sollte sie auch alle Aufregung und Störung vermeiden. Dies ist der wichtigste Grund, dem Prinzip der weiblichen Absonderung zu folgen.
Trotz oder gerade wegen dieser Einsichten, wird Ora Ray, genannt Amina Begum, den Schleier - wenn auch mit Bedauern - wieder ablegen, als man ihrem Mann vorwirft, ihr den Schleier aufgezwungen zu
haben und Hazrat Inayat Khan damit abwerten will.
Als die Familie nach Jahren bitterster Entbehrungen durch die Spenden großherziger Schüler ein Haus, Fazal Mansil (gesegnetes Haus), in Suresnes bei Paris beziehen kann, das ihr Vater zu
seiner vielbesuchten Lehrstätte ausbaut, scheint es zunächst so, als sei den Kindern ein Leben in Glanz, Spiritualität, und schönen Künsten
vorherbestimmt. Vilayat wird bereits zum Nachfolger seines Vaters erzogen, und auch Noor versucht, eine ihr gemäße Weise zu finden, das Werk ihres Vaters mitzutragen: die Beschäftigung mit
Märchen und
Lehrgeschichten.
Auch der Hintergrund ihres Vaters als Musiker spielt eine wichtige Rolle: Alle Kinder erhalten sowohl eine Ausbildung in klassischer indischer als auch in europäischer Musik, die sie zum Studium bei den bekanntesten Musikern der damaligen Zeit führt. Für Familienangehörige, sowie Gäste und Schüler ihres Vaters betreiben sie Hausmusik; Noor spielt Harfe, Vilayat Cello, Hidayat, der kleine Bruder, Geige, und Khair-un-Nisa, die kleine Schwester, Klavier. Es scheint sich alles glücklich zu fügen, doch da trifft die Familie ein neuer Schicksalsschlag:
Bildnachweis: Noor Inayat Khan Memorial Trust
Hazrat Inayat Khan stirbt 1926 auf einer Indienreise. Die Begum bricht völlig zusammen und wird die nächsten fünf Jahre schwer depressiv und bettlägerig. Bis zu ihrem Tod 1949 wird sie sich nie
mehr wirklich erholen.
Noor, obwohl erst 12 Jahre alt, fühlt sich als Ersatzmutter und -vater für die Geschwister in die Pflicht genommen. Auch um ihre Mutter, die die nächsten Jahre weder imstande ist, ihr Zimmer zu
verlassen, noch Besuch zu empfangen, kümmert sie sich rührend.
Bereits in frühester Kindheit erweist sie sich als außerordentlich kreativ: sie komponiert kleine Musikstücke und schreibt Gedichte. Wie ihre Geschwister auch, beschäftigt sie sich mit dem Leben
ihres Vaters, und zu ihren wichtigsten Büchern, aus denen sie ihr Selbstverständnis gewinnt, werden sein „The Unity of Religious Ideals“, der Koran und die hinduistischen Epen. Freunde aus dieser
Zeit beschreiben sie als allen Menschen gegenüber liebevoll und zugewandt, doch sie ist besonders ihrem Bruder Vilayat zugewandt, zu dessen 19. Geburtstag sie dieses Gedicht verfasst:
Du, der sich dem geöffnet hat, Der da sagt:
„Komm zu mir, du geliebtes Kind,
Ruhe dich aus an meinem Herzen, gib mir deine Gedanken,
Vereint gehen wir durch den Lauf der Jahre,
Und formen das Bild unserer gemeinsamen Bestimmung.
Du wirst für Mich Gefährte und Leben.“
Du, den Gott mir gegeben hat,
Lieber Gefährte, sei mir allzeit nahe.
Wir werden Seite an Seite gehen und Gott wird nicht verlassen,
Seine Erdenkinder, denen Er sich verband.
Laß uns das Haupt beugen und wir werden gesegnet.
Unsere Leben liegen vor uns wie leuchtende Sterne,
Geben uns Stärke und machen uns glücklich.
Oh Gott, schau’ Deine Kinder mit dem Blick der Liebe an,
Höre ihre Gebete, die diesen Tag erweckten,
Oh, barmherziger Gott, oh, ewiger Gott,
Nimm Deine beiden Kinder in Deine Väterlichen Arme.
Sie fühlt sich aufgerufen, das Werk ihres Vaters auf ihre Weise fortzusetzen, beginnt neben ihrem Musikstudium ein Studium der Kinderpsychologie. Sie verfasst mehrere Märchen, die die BBC in ihren Kindersendungen ausstrahlt. Übrigens wird auch ihr erstes großes Konzert als Harfenistin in Paris von Radio France ausgestrahlt. Gleichzeitig übersetzt sie zwanzig Jataka-Geschichten aus den früheren Leben des Buddha. Das Buch erscheint 1939. Eine Kinderzeitung ist in Planung. Noor scheint ihre Bestimmung gefunden zu haben.
Der Krieg bricht aus
Da bricht der Krieg aus und stellt nicht nur für sie, sondern auch für ihren Bruder und die übrige Familie die Fortsetzung des bis dato geführten Lebens infrage. Mit Vilayat, ihrem engsten
Vertrauten, führt sie lange Gespräche, über die dieser später schreiben wird:
"Wir besprachen eingehend und ausführlich das Pro und Kontra unserer Teilnahme am Krieg. Unser Problem bestand in derselben Frage, mit der sich heute die Wehrdienstverweigerer
auseinandersetzen. wir waren in der Schule unseres Vaters, eines östlichen Weisen und Lehrers geformt worden ... Wie konnte man angesichts der Ausrottung der Juden spirituelle Moral predigen,
ohne aktiv an Verhinderungsmaßnahmen teilzunehmen?"
Die Konsequenz aus diesen Gesprächen ist für Vilayat eine Meldung als Freiwilliger in die Royal Air Force, um sich als Kampfpilot ausbilden zu lassen, und für Noor zunächst, zusammen mit Mutter
und Schwester, eine Ausbildung als Sanitäterin. 1940 muss die gesamte Familie nach England fliehen, und dort stellt sich überraschend heraus, daß die Frauen aus formalen Gründen vor einem
eventuellen Einsatz ihre Sanitätsausbildung unter britischer Aufsicht wiederholen sollen.
Mutter und Schwester wiederholen die Ausbildung, doch Noor, mittlerweile ungeduldig geworden, sucht einen anderen Weg: sie wählt den Weg in die Luftwaffe - der Teilstreitkraft ihres Bruders, und
tritt in die Women’s Auxiliary Air Force ein, das weibliche Luftwaffenhilfscorps.
Bezeichnend für den Geist, in dem beide Geschwister ihrer empfundenen Pflicht nachkommen, ist folgende Geschichte: Vilayat hat als erster seinen Termin im Rekrutierungsbüro. Bei der Erhebung der Personalien stolpert der aufnehmende Feldwebel als erstes über den Vornamen: als „Vilayat“ nach mehreren Anläufen für zu kompliziert befunden wird, stimmt Vilayat einer Registrierung als „Victor“ zu. Es wird nach der Religion gefragt; Vilayat setzt zu einer Erklärung seines spirituellen Hintergrundes an. „Zu kompliziert, wir tragen CoE ein, Church of England, dann paßt das.“ Lächelnd stimmt Vilayat zu. Als seine Schwester ihren Rekrutierungstermin hat, gibt sie gleich an: Vorname Nora, Religion CoE.
Ausbildung und Weg nach Frankreich
Noor wird zunächst zur Funkerin und Fernschreiberin ausgebildet. Der Dienst ist teils anstrengend, teils langweilig, und der militärische Teil der Ausbildung mit Formaldienst, Märschen und
Schießausbildung sowie das Uniformtragen bereiten ihr zunächst erhebliche Schwierigkeiten; seit ihr im Säuglingsalter eine chinesische Kinderfrau ohne Wissen der Eltern heimlich versuchte, die
Füße zu traditionellen "Lotosfüßen" zu binden, sind die Füße schwer deformiert, somit wird ihr das Tragen der klobigen Uniformschuhe sowie der schweren Kampfstiefel zunächst zur Quälerei, durch
die sie sich allerdings durchbeißt.
Als ihr Bruder wegen eines Sehfehlers seine Pilotenausbildung abbrechen muss und zur Marine wechselt, fehlt ihr zu dieser Waffengattung der Bezug, und hierin folgt sie ihm nicht - zum ersten Mal. Als ihr bald darauf bedeutet wird, sie könne sich einer anderen Aufgabe stellen, ist sie dankbar. Zunächst ahnt sie nicht, was auf sie zukommen wird.
Sie wird zu einem Gespräch nach London befohlen, und dort wird ihr eröffnet, daß man sie ihres Engagements sowie des Eindrucks über ihre Persönlichkeit und Biographie für geeignet hält,
eine wichtige Funktion im besetzten Frankreich zu übernehmen: sie soll dort als Funkerin einem Agentenring zugeteilt werden.
Zunächst hatte es noch Bedenken gegeben: in einer Beurteilung kommt man zu dem Schluss, sie sei als Funkerin ungeeignet, da ihre Arbeit noch zu fehleranfällig ist, sie selber zu "clumsy"
(tollpatschig). Ihr wird zu viel "Idealismus" bescheinigt und das gilt als zunächst als Hindernis. Dem steht entgegen, daß die Funker im Feindesland hohe Verluste haben: die
durchschnittliche Überlebenszeit beträgt 6 Wochen.
Fortsetzung folgt.