Syrische Flüchtlinge, Schuhe,  deutsche Befindlichkeiten - und ein Mordanschlag

Nachdem Anfang September die Krise um die syrischen Flüchtlinge eskaliert war, bis es am ersten Wochenende im September für ca. 20.000 von ihnen eine Lösung gab, konnte man nicht nur mehr über diese Menschen, sondern auch über deutsche Reaktionen und Befindlichkeiten erfahren.  Mittlerweile explodiert bei vielen Politikerreden, in den Leit- und sozialen Medien der Hass.


Der traurige vorläufige Höhepunkt ist das heutige Messerattentat auf die Kölner Oberbürger-meisterkandidatin Henriette Reker.

 

Lange habe ich die Erstaufnahmeeinrichtung hier in Sonthofen zwar immer aus den Augenwinkeln, aber doch relativ passiv beobachtet - einige Sonthofer Bekannte engagieren sich dort. Ich hatte und habe andere Schwerpunkte. Allerdings konnte ich das guten Gewissens tun, denn was ich sah, hat in mir den Eindruck verfestigt, daß es hier im Allgäu einfach "läuft". Die Flüchtlinge hier in Sonthofen sind in einem Kasernenblock der weitestgehend aufgegebenen Grünten-Kaserne untergebracht und werden von hauptamtlichen und ehrenamtlichen Helfer*innen betreut. Ich weiß übrigens aus Erfahrung, was bei solchen Hilfsaktionen alles nicht klappen kann. Zum Beispiel bekam ich bei einem Facharztbesuch mit, daß die ärztliche Versorgung klappt.

Als vom  Rapper Thomas D. von den Fantastischen Vier ein Aufruf der Sonthofer Ersteinrichtung in den Sozialen Medien gepostet wurde, daß man in Sonthofen Kleider, Wäsche und Schuhe brauche, habe ich mich von einigen meiner Schuhpaare getrennt und bin damit in den Salzweg gefahren und dachte mir, gucke ich erstmal nach, was die aktuell - noch - brauchen.

 

Als ich meinen Wagen auf dem Kasernenparkplatz abgestellt hatte, bot sich sofort einer aus einer vorbeikommenden Gruppe an und half mir tragen. Auf dem Hof saß eine Menge anderer Refugees. Oben im Lager nahm man dann meine Schuhe entgegen -die Lager waren wieder voll und der "Helferkreis" besprach sich und organisierte das Einräumen der am Wochenende vorbeigebrachten Spenden. Ich hatte zwar weitere Spenden angeboten - z.B. Unterwäsche zu kaufen, aber ich wurde gebeten, damit erstmal zu warten. Es kamen noch viel mehr Leute und, wenn man Refugees gegrüßt hat, grüßten die zurück mit "Thank you." Sicherlich nur ein oberflächlicher Eindruck, aber sicherlich sagt der schon einiges. Und wie man in den (sozialen) Medien sehen kann, sicherlich kein Einzelfall. Wenn ich mir allerdings eine Menge steile Thesen und unterirdische Kommentare ansehe, kann ich nur noch den Kopf schütteln. Manches macht mich auch fassungslos.

 

 

"Merkel inszeniert sich..."

 

Sicherlich hat Deutschland zu der jetzigen Situation mit beigetragen: durch die unsägliche Dublin-Regelung, durch das Insistieren auf die "sicheren Drittstaaten". Doch mittlerweile ist zu beobachten, wie AfD und Medien die Stimmung zum Kippen bringen, aus welchem Grund auch immer. Ich nehme den meisten Schreihäls*innen ihre "Angst vor dem Islam" nicht ab und ich bin entsetzt, wie sich Pegida % Co radikalisieren.

Aber nicht nur Pegida. Das Fallbeil wurde auf der Anti-TTIP-Demonstration gesichtet und bezeichnet genau das Problem: ich selber habe schon länger die Rechtsoffenheit auf lokaler und Bundesebene von attac für Wahnwichtel, Neonazis usw. beanstandet. Jetzt bin ich ausgetreten.

 

Wenn ich mir ansehe, was jetzt versucht wird, gegen Merkel abzuziehen, wird mir wirklich angst und bange: "...an die Wand ...". Und wenn man sich diese Galgen-Installation ansieht - um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: ich stecke das "Anti-TTIP-Fallbeil" in die gleiche Kiste. Der Zweck heiligt nicht die Mittel, aber die Mittel delegitimieren den Zweck.

 

Ich finde es überhaupt nicht so wichtig, was Angela Merkels Gründe waren, aber ich finde es richtig, was sie gemacht hat. Und ich kann die Bemerkung eines fb-Users beidhändig unterschreiben, der da meinte, wenn alle die, die sich zur Zeit in den Sozialen Medien einen Wolf tippen,um mitzuteilen, daß die Flüchtlingskrise nicht zu schaffen sei, mal mal mit anpacken. Aber wie Russland-Freund Gauland sagt: Wir wollen das garnicht schaffen. Hier ist die Rede, gehalten am 7.10. auf dem Wandertag der Erfurter Hass-Schnatzen: das erinnert mich an die ersten Jahre der Weimarer Republik:

 

Und auch hier die Rhetorik von Weimar:

"Volksverräter". Und was macht man mit Volksverrätern? Darauf hatte Weimar schon die Antwort: "Verräter verfallen der Feme". Und dann zog die Organisation Consul los, versuchte zu putschen, und als das nicht erfolgreich war, zogen sie los und mordeten. "Erfüllungspolitiker" Matthias Erzberger, den als "internationalen Juden" geschmähten erfolgreichen Industriellen und deutschen Außenminister Walther Rathenau, den Architekten des Vertrages von Rapallo.


„Auch Rathenau, der Walther,
Erreicht kein hohes Alter,
Knallt ab den Walther Rathenau,
Die gottverdammte Judensau!“



Was man am 24. Juni 1922 dann auch tat.

 

Ab Minute 8'30 bedient Gauland dann den dumpfen Antiamerikanismus. Man kann die Politik in Afghanistan für falsch halten, muß man wahrscheinlich sogar, doch es war nicht nur amerikanische Politik, nicht mal unter Gerhard Schröder. Im Gegenteil: die Lüge, die den Irak-Krieg auslöste, soll von Deutschland aus gestreut worden sein. Deutschland, auch das von Gasgerd regierte,  "nicht verantwortlich" für die Destabilisierung des Nahen Ostens?


Rathenau war ebenfalls diffamiert worden: natürlich als "Erfüllungspolitiker" (obwohl der Ausgleich mit der Sowjetunion der deutschen Industrie, auch der Rüstungsindustrie, volle Auftragsbücher bescherte), und, ebenso natürlich als Jude. Doch das war nicht das einzige Motiv: wie dieser Wikipedia-Artikel, einer der wenigen sehr guten, richtig beschreibt, daß es darum ging, Chaos zu stiften, eine Reaktion der Linken zu provozieren, auf die die Rechten dann wiederum ihrerseits reagieren könnten, was dann in einen Bürgerkrieg führe, dessen Ergebnis dann eine autoritär-monarchistische Militärdiktatur sein würde. Sowas geht, die Ungarn hatten es ja vorgemacht, auch ohne Monarch: ein "Reichsverweser" wie Horthy ist vollkommern ausreichend. Aber willige Hohenzollernprinzen hätten auch zur Verfügung gestanden. Und einer sogar Mitglied der SA, in der die Terrororganisation Consul aufging, die ihrerseits aus dem berüchigten Freikorps "Marinebrigade Ehrhard" hervorging.


Auch heute wird aus meiner Sicht nach demselben Strickmuster versucht, zu destabilisieren, wie die wichtige Dokumentation "Dunkles Deutschland" zeigt, radikalisiert sich der Protest und in einer Sequenz des Films verkündet einer der Protagonisten der Muslimfeinde der sächsichen Stadt Meißen mit freundlichem Lächeln, man bunkere bereits Waffen - den Film dringend ansehen und ggf abspeichern, bevor er aus der Mediathek und Youtube rausfliegt:



Und nochmal: für mich sind Hinrichtungsphantasien bei einer vermeintlich linken Demonstration genauso strafrechtsrelevant und unakzeptabel!



"Wir nehmen  nur Christen" ...

 

Menschenrechte sind nicht teilbar, das muss Gemeinschaftswert in der Wertegemeinschaft sein! Auf dem Boden des Narrativs, daß einige, besonders mehrere slawische Völker als letztes Bollwerk vor der "islamischen Barbarei standen - 1389 die Serben auf dem Amselfeld, die Moskowiter 1438-1552, Johann Sobieski vor 1683, später die Griechen ... der Narrativ ist immer der gleiche: "Wir haben unter großen Opfern Europa vor der islamischen Barbarei gerettet, und niemand hat es uns je gedankt". Mit der serbischen, der Amselfeld-Variante, wurde erst unlängst der Völkermord an den bosnischen Muslimen eingeleitet.

 

Er steht auch in einem der Werke von Putins Lieblingsphilosoph Iwan Iljin - den Putin seinem Fußvolk angeblich ans Herz legt. Iljin ist heute in Russland wieder schwer angesagt und alle seine Werke werden jetzt wieder verlegt. Und auch Stalin hat sich dieses Narrativs bedient: nicht zufällig erschien Eisensteins Film "Iwan der Schreckliche" (hier komplett und mit englischen Untertiteln) während des Großen Vaterländischen Krieges. In einer Schlüsselszene, in der Dorfbewohner den Treueschwur auf Iwan ablegen sollen, wird den Bojaren (mächtigen Adligen in Moskowien) vorgeworfen, sie verhielten sich nicht christlich. Und Iwan/Stalin sieht seinen Lohn vor Augen: "Die Deutschen und Litauer werden sich Moskau unterwerfen". Schließlich war die Kirche unter den Bolschewiken gnadenlos verfolgt worden. Die Verfolgung der anderen Religionen wie Islam und Buddhismus war da eher kollateral. Seit 1941 wurde diese Verfolgung zurückgefahren, wobei die religiösen Führer stets vom KGB/FSB geführt wurden. Das war in allen Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten so - wenn man ihnen denn ihre Religion ließ und keine atheistischen Kampagnen fuhr.


Wenn man gerade wieder dabei ist, seine nationale Identität, zu der auch die eingewurzelte religiöse Identität gehört, wiederzufinden, ist es für mich verständlich, daß es zu solchen Aussagen kommt, aber die sind nicht zu akzeptieren.

Menschenrechte sind nicht teilbar!


Allerdings denke ich, daß Vormachen besser ist als der Zeigefinger.

 

 

 

Die bösen Balten und andere Osteuropäer

 

Ich denke nicht, daß man da mit moralinsauren Appellen oder gar Liebes- (lies Geld-)Entzug weiterkommt: die Osteuropäer haben sich vor nicht allzu langer Zeit von einem blutigen Großen Bruder befreit, der sie bis 1991 mit Mord, teils Völkermord, Deportationen überzogen und sich wie eine Kolonialmacht aufgeführt hat, die er letztendlich auch war. Die Massengräber können heute besichtigt werden. Wer das im Einzelnen nachlesen will, dem empfehle ich Timoth Snyders "Bloodlands".

 

Ganz abgesehen davon gibt es auch Sachargumente: die Balten sind gebrannt von dem Automatismus, mit dem den Griechen die Kredite gegeben wurden, solange, bis es dann geknallt hat. Wie das diskutiert wird, kann man z.B. hier recht gut verfolgen. Die estnische Variante steht hier. Und da reagiert man halt empfindlich darauf, wenn eine gefühlte Große Schwester einem sagt, wie sie's gerne hätte - zumal diese Große Schwester ja die Enkelin eines weiteren Großen Bruders ist, der nicht nur im Baltikum auch in sehr schlechter Erinnerung ist.

 

 

Die angebliche Angst vor dem IS

 

Daß Russland die osteuropäischen Staaten aktiv destabilisiert, ist eine Binsenweisheit, zuletzt hier noch mal von der Jamestown-Foundation analysiert. Es gibt Hinweise darauf, daß, mit Hilfe des FSB Djihadisten aus dem Kaukasus nach Syrien entsorgt. Wie ich aus Russland selber erfuhr, wird dort der angebliche Schutz vor Terroranschlägen daheim als eine der wesentlichen Beweggründe für das Eingreifen in Syrien beworben. Das kann mit einem Blick auf die Karte und dem weiteren Verlauf leicht widerlegt werden. Russland bekämpft, zum Wohle Assads, die, die den IS bekämpfen. Die angebliche Angst vor dem IS(lam) ist der Speck, mit dem man Mäuse fängt. In die Falle sollte der Westen nicht tappen.



Der Anschlag auf Henriette Reker

Und schon ist dieser Blogeintrag von der Realität überholt worden: heute gab ers das erste offenbar fremdenfeindlich motivierte Anschlag auf eine Politikerin, die nicht nur, als Sozialdezernentin, für die Flüchtlingspolitik der Stadt Köln, sondern offensichtlich auch schon länger in antirassistischen Zusammenhängen aktiv. Unter ihrem Wikipedia-Eintrag findet man 26 Quellen.


Sie wird von einem Vier-Parteien-Bündnis unterstützt. Ich sehe das genau wie OB Jürgen Roters:


"Das ist nicht nur ein Anschlag auf Leben und körperliche Unversehrtheit von Frau Reker und anderen... sondern auch auf die Demokratie..."


Und der wurde vorbereitet duch die anschwellenden Bocksgesänge in den Leit- und sozialen Medien, durch schwachsinnigen Clicktivismus, oder, wenn man sich sonst nichts traut, durch gehässige Spitzen in fb-Kommentaren wie hier:



Zynische Kommentare lassen nun auch nicht auf sich warten. Hier äussert sich ein weiterer "besorgter Bürger":



Ich musste feststellen, daß man es schon in den zwei Wochen, in denen ich in der Ukraine war, geschafft hat, das Willkommensklima für die Flüchtlinge zu beschädigen - nicht nur in Deutschland, sondern Europaweit.

Während ich diesen Artikel fertigstelle, berichtet n-tv fast pausenlos über den Anschlag. Es wird nicht der letzte sein. Zunächst sollten wir aber alle hoffen und beten, daß alle Verletzten diese Attacke gut und unversehrt überstehen. Vielleicht wäre zumindest die Wiedergenesung von Frau Reker und den anderen Verletzten ein guter Anlass für ein neues Solidaritätskonzert.


Und es muß ein breiter Konsens darüber sein, daß diese Schreibtischtäter, all diese "besorgten Bürger" mitgestochen haben, nicht nur Pegida:



Eine wichtige Stimme:

Liane Bednarz, die Münchner Juristin und Autorin, von der ich im Widget zwei Bücher verlinkt habe, bringt es auf den Punkt:

Martin Niewendick schreibt vollkommen richtig:

 

"Völlig egal, ob der Mann geistesgestört ist oder noch alle Sinne beisammen hat: Die Saat der Hetze gegen Asylbewerber ist aufgegangen. Pegida hat mitgestochen..."

 

und die Konsequenz ist ebenfalls richtig:

 

"Es ist gut, dass die Oberbürgermeister-Wahl in Köln trotz des – man muss es wohl so sagen  –  Mordversuches stattfinden wird. Die Zivilgesellschaft darf nicht einknicken. Nicht vor Messerangriffen, nicht vor Galgen, nicht vor Hetz-Parolen."

 

Es wird interessant sein, zu beobachten, wie diese Einsichten umgesetzt werden. Wir kommen um eine gesamtgesellschaftliche Ächtung dieser Menschenfeinde nicht herum. Z.B. von Björn Höcke, der morgen, wie weiland Kathrin Oertel bei Günther Jauch auf Augenhöhe empfangen wird. 

 

Der wirde es natürlich abstreiten, auch nur irgendetwas mit der Tat zu tun zu haben.

 

Wir sollten uns jedoch vor Augen halten: auch für diese Leute ist die Flüchtlingskrise nur eine Etappe:

 

Sie wollen ein anderes Deutschland, ein anderes Europa!

 

Und es sind schon nich mal mehr die Anfänge, derer wir uns erwehren müssen.

 

12 wichtige Bücher zum Weiterlesen: