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Hier ist ein Artikel der früheren
nieder-ländischen Deutschlandkorrespondentin des niederländischen Rundfunks, NOS, Margriet
Brandsma, im belgischen, sozialdemokratischen "De Morgen". Der Artikel ist nicht unkritisch, hebt sich aber wohltuend vom alarmistischen Geschrei ab, das manche Medien zur Zeit Stakkato
abschießen.
Europa kennt Merkel als eine rationale Politikerin. Sie ist Naturwissenschaftlerin und zieht es vor, die Probleme mit dem Flüchtlingsansturm auf wissenschaftliche Weise zu lösen. Sie selbst nennt
das "vom Ende her" - schon am Anfang bedenken, zu welcher Lösung man mit welchem Vorgehen kommt, um dann vorsichtig den besten Weg zu umreißen. So ging sie bei der Wirtschafts- und Finanzkrise
vor, so packte sie die Probleme rund um Griechenland an.
Doch in den letzten Monaten sieht Europa eine andere Angela Merkel. In der Flüchtlingskrise lässt sie ihr Herz sprechen, und plötzlich ist sie nicht mehr die unberührbare Bundeskanzlerin, die sie
jahrelang war. Merkel sei naiv, so die Kritik und diese Kritik flammt auch in ihrer eigenen Partei, den deutschen Christdemokraten auf. Die sehen, daß die Stimmung im Land kippt und das
übersetzt sich in abnehmende Wählergunst.
Ist Merkel wirklich naiv? Wer Selfies mit der deutschen Bundeskanzlerin zu denen schickt, die in türkischen oder libanesischen Flüchtlingslagern zurückgeblieben ist, daß man in der neuen Heimat
gut bleiben kann. Vielleicht hat Merkel das unterschätzt. Aber mit Naivität hat das nicht so viel zu tun. Viel interessanter ist die Frage, ob Merkel denn eine Wahl hatte. Was hätte die Welt denn
zu einem Deutschland gesagt, das die Grenzen geschlossen hätte - sofern das überhaupt möglich gewesen wäre? Das nicht die Führung übernommen hätte in einer Flüchtlingskrise, von der jeder hätte
wissen können, daß sie früher oder später auf Westeuropa zukommen würde?
Merkel hatte eingesehen. daß sie keine andere Wahl hatte und voller Überzeugung die Grenzen geöffnet.
"Wenn ich mich dafür entschuldigen muß, daß Deutschland in einer Notlage ein freundliches Gesicht zeigt, ist das nicht mehr mein Land",
sagte sie, aufs Neue un-merkelianisch deutlich. Schritt für Schritt arbeitete sie an der größten Herausforderung seit der Wiedervereinigung.
Sie geht mit Hollande ins Europäische Parlament, reist in die Türkei um mit Erdogan über die Aufnahme in der Region und die Zurücknahme von Flüchtlingen zu reden. so macht sie deutlich, daß
dieses Problem für Deutschland alleine zu groß ist, und es nötig ist, über den eigenen Schatten zu springen, um der Flüchtlingskrise die Stirn bieten zu können.
Einen Masterplan hat sie nicht und kann sie auch nicht haben. Allein internationale Solidariät und der Wille, das Problem an seiner Ursache anzupacken, bei den kriegführenden Parteien, bietet
Erleichterung. An militärischen Interventionen wird Deutschland, wegen seiner belasteten Vergangenheit so schnell nicht teilnehmen. Grund genug, so Merkel, um auf humanitärem Gebiet
großherzig zu sein. Merkel hat sich auf Glatteis begeben. Schlechte Ergebnisse bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr und das kann es dann mit Bundeskanzlerin Merkel gewesen
sein.
Das weiß Merkel so gut, wie niemand anderes und das Risiko geht sie voller Überzeugung ein. Sie ist mit sich selbst im Reinen - mehr als bei jeder anderen Krise. Glückt ihr das, ist sie vielleicht der erfolgreichste Bundeskanzler, den Deutschland jemals gehabt hat. Verliert Deutschland mit seiner großherzigen Bundeskanzlerin die Geduld, geht sie erhobenen Hauptes.