Inszenierung einer Kriegsikone: Der "russische Capra", Jewgenij Chaldej, stellt die Flaggenhissung, nachdem der Reichstag bereits am 30. April erobert worden war, am 2. Mai 1945 nach: endlich hatte die Roter Armee es geschafft, der Weg zum Reichstag, на рейхстагом, in das Herz der Finsternis war zuende, der Krieg gewonnen. In Moskau wurde ein schönes Bild mit der passenden Geschichte gebraucht. Es musste mehrfach nachgebessert werden: im Hintergrund wurden Rauchschwaden eingefügt und dem russischen Rotarmisten Michail Jegorow, der den Flaggenhisser stützte, wurde eine von zwei Armbanduhren wegretuschiert.
Das Bild war vom "russischen Capra", dem Armeephotographen Jewgenij Chaldej
- übrigens ein in Donezk geborener jüdischer Ukrainer - aufgenommen worden. Der georgische Feldwebel Meliton Kantaria sei derjenige gewesen, der, unterstützt von einem russischen Kameraden, die Fahne auf dem Reichstag gehisst habe. Kantaria war, wie Kamerad Jegorow auch, unter Anderem mit dem Orden "Held der Sowjetunion" geehrt worden, der neben dem Ruhm auch nicht unerhebliche Privilegien mit sich brachte. Er selber erzählte jahrelang die folgende Geschichte:
"Mein Regimentskommandeur, Oberst Sintschenko, rief mich und den Genossen Jegorow zu sich und sagte: Hier ist die Rote Fahne. Nehmt sie und hisst sie über dem Reichstag. « Wir haben den Befehl wiederholt, nahmen die Fahne und machten uns auf den Weg zum Reichstag, zum ersten Mal am 30. April 1945 um 14.25 Uhr. Zunächst haben wir sie am Haupteingang gehisst. Dann gingen wir in den zweiten Stock. Am Abend um 21 Uhr wehte die Fahne auf der Reichstagskuppel. Da aber in diesem Moment keine Fotografen da waren, haben Genosse Jegorow und ich die ganze Szenerie am 2. Mai nachgestellt."
Bildnachweis: peoples.ru. Kantaria als aktiver, junger Rotarmist, schon mit dem "Heldenstern" geehrt.
Diese Geschichte ist die, die zunächst in der sowjetischen Geschichtsschreibung galt. Sputnik-Vorgänger Voice of Russia hat 2007 auch eine Version verfasst und ergreifend ausgeschmückt: zunächst ein Rückgriff auf den Feldmarschall Pjotr Schuwalow, der während des Siebenjährigen Krieges (der, das nur am Rande, keinen richtigen Sieger generierte) gesagt haben soll, man könne sofort Berlin erreichen, wenn man denn wolle. Eine virtuelle Eroberung, sozusagen. Dann 1813: russische Truppen setzten dem sich zurückziehenden Napoleon und durchquerten Berlin. Eigentlich also "zu Gast bei Freunden", aber das zählt Voice of Russia als zweite Eroberung um dann mit Volldampf zum Heldenepos von 1945 aufzubrechen. In diesem Artikel steht von Chaldej nichts: der Photograph sei der ebenfalls nicht unbekannte Viktor Tjomin gewesen.
Und es ist im Artikel zwar einmal die Rede davon, daß Soldaten aus der Ukraine und Belarus Seite an Seite mit ihren russischen Brüdern gekämpft hätten, aber der Artikel schließt mit dem Satz:
"Proud and feeling vindicated, Russian soldiers were putting their signatures on the crippled walls and columns of the Reichstag…"
Bildnachweis: Kantaria in höherem Lebensalter. http://www.ceskatelevize.cz
Russifizierung des Sieges
Nun wurde an der Geschichte mittlerweile so oft herumgebessert, daß nicht nur von dem Bild, das mittlerweile Ikonenstatus hat, mehrere Versionen existieren, sondern auch von der Geschichte als solche: es seien nicht zwei, sondern drei Soldaten gewesen. am 30. April seien nicht Kantaria und seine Kameraden auf dem Reichstag gewesen, sondern eine Gruppe um den Unteroffizier Michail Petrowitsch Minin habe die Fahne, ebenfalls von Regimentskommandeur Oberst Sintschenko beauftragt, am ersten Mai, dem Feiertag der Arbeiterklasse auf den Reichstag gebracht. Oder war es doch eher der 2. Mai. Auch Minin wurde - spät aber immerhin - für die Erstürmung des Reichstags ausgezeichnet. Auch Minin gab Interviews, sein letztes kurz vor seinem Tod im ZDF. Jewgenij Chaldej hat Minins Version genauso bestätigt, wie zuvor die Version von Kantaria.
Bildnachweis: Jewgenij Chaldej in Berlin auf dem Reichstag. 1993. Anlässlich dieses Besuches bestätigte er die Version von Minin.
Es fällt auf, daß die Beteiligten an diesem Bild alle "russifiziert" wurden. Aus dem jüdisch-ukrainischen Photographen Jewgenij Chaldej wurde der russische Photograph Viktor Tjomin, aus dem Georgier Kantaria der Russe Minin - Zufall? Die entsprechenden Einträge in Wikipedia helfen hier nicht weiter, denn jemand hat auch dort schon nachgebessert. Nachgebessert wie z.B. auch die Wikipedia-Seite der erfolgreichsten Scharfschützin der Roten Armee, Ludmilla Pawlitschenko, geboren in Bjelaja Cerkow, ca 40 km von Kyiv entfernt, die auch so langsam zur Russin, Mädchenname Belowa, umgestrickt wird. Zufall? Oder von oben vorgegebene Linie? Sieht man sich das folgende Video an, sieht es verdammt danach aus. Ober-Nachtwolf Saldostanow gibt Putin das Stichwort zur Verhöhnung der ukrainischen Rotarmist*innen. Und dann machte auch der schon wieder geplante Besuch von Putins Motorradmännchen einen Sinn, der sich vielleicht bislang noch nicht so erschlossen hat: die Leistungen der Rotarmist*innen aus den anderen Sowjetrepubliken, besonders der Ukraine, aus der russischen Geschichtsschreibung herauszudrängen.