Während des Ramadan in Samarkand -Teil 4

Als wir am Eingang zur Nekropole unseren Obulus bezahlen, will ein freundlicher Mann wissen, ob ich aus Deutschland komme. Die positive Antwort erfreut ihn sehr. Er sei zwei Tage zuvor von einer Besuchsreise aus Deutschland zurückgekommen.

Er ist einer der beiden, die am Eingang als Du’a-Beter oder Koran-Rezitator wirken, bei denen man ein Du’a oder eine Koran-Rezitation gegen eine Spende bestellen kann.

 

Das für die Gebete eingenommene Geld wird überall offenbar für die Renovierung und/oder Erhaltung religiöser Bauwerke verwandt, und es scheint mir usbekische Tradition zu sein, einem Beter immer sadaqa (Almosen) zu geben, weil man sich offenbar von den Gebeten dann mehr Kraft verspricht.

Man setzt sich während der Rezitation oder des Gebetes daneben, hört entweder zu oder betet mit nach oben geöffneten Händen mit. Außerdem ist es offenbar adab, d.h. gute Sitte, daß, während eines Gebetes jeder stehenbleibt und die Hände erhebt.

 

Bildnachweis: Beterin in der Nekropole. Eigenes Archiv

Bevor einige ehemalige oder Noch-Katholiken und -Lutheraner entsetzt „Ablaß“ rufen, sei gesagt, daß sich diese Praxis vom „Ablaßhandel“ doch ganz erheblich unterscheidet: Niemand gibt hier, wie weiland Johann Tetzel, etwas Schriftliches heraus, wie einen „Ablaßbrief“, man bekommt „nur“ ein Gebet bzw. die Unterstützung dabei. Aber das Allerwichtigste: es fühlt sich einfach anders an! Mehr erfahre ich zunächst nicht.

 

 

Zunächst müssen wir die „Himmelstreppe“ bezwingen, die im Volksglauben als so eine Art „Sünd-o-meter“ dient. Man zählt beim Heraufgehen die Stufen und auf dem Rückweg noch einmal. Wobei jeder Führer sein eigenes System hat, die Stufen zählen zu lassen, wobei einige Stufen doppelt zählen, wieder andere überhaupt nicht, und es kommt dann je nach Fremdenführer immer etwas anderes heraus. Bei einem sündenreinen Menschen soll die Anzahl beim Auf- und beim Abstieg gleich sein, doch je größer die Differenz, desto sündiger der Mensch. Und dann mußte man sich früher die Sündenreinheit richtig erarbeiten: mindestens vierzig mal die Stufen rauf und runter und auf jedem Weg eine Münze pro Stufe abgelegt...

 

Den Rückweg will ich vorwegnehmen: bei mir blieb die Anzahl der Stufen - 40 - beim Auf- und Abstieg gleich, was mich doch an der Tauglichkeit des Sündenmessers zweifeln ließ. Die Auflösung aus der Sicht (m)eines russischen Fremdenführers: Die Vergebung der Sünden hinge ja wohl auch im Islam von solchem „magischen Unsinn“ nicht ab, Gott vergebe doch die Sünden, wie Er wolle, oder etwa nicht? Und der Du’a-gegen-Sadaqa-Handel, die Münzen auf der Treppe, die Münzen vor dem Schrein von Kutham ibn Abbas - das alles sei seiner Ansicht nach eine höchst geniale Methode der „Mullahs“ gewesen, dem Volk das Geld aus der Tasche zu ziehen, heute wieder stark im Kommen, wie ich ja selber feststellen könne. Obwohl selber auf der Suche nach Gott, ist auch an ihm die sowjetische Erziehung zur „Gottlosigkeit“  nicht spurlos vorübergegangen und die Möglichkeit, daß das Geben von sadaqa auch heilende Wirkung haben kann, hat in seiner Gedankenwelt schon gar keinen Platz. In sowjetischer Zeit haben sich im Übrigen viele Fromme, die dem Heiligtum nahe sein wollten, als Billetabreißer, Andenkenverkäufer u.ä. verdingt, um dem Heiligtum nahe zu sein und wenigstens gelegentlich dort einmal in aller Heimlichkeit beten zu können. 

 

Von der Atmosphäre der Totenstadt bin ich völlig gefangen. Hier hatte Tamerlan für viele Mitglieder seiner Familie, sowie für geschätzte Mitglieder seines „Generalstabes“ Mausoleen bauen lassen und jedes muß einzigartig in seiner Schönheit gewesen sein. Heute sind sie alle völlig verfallen und gemahnen so besonders eindringlich an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Die in unzähligen Reiseführern beschriebenen Einzelheiten erschlagen mich fast. Andrej bemüht sich, mir die Systematik der Samarkander Bauwerke nahezubringen. Man kann das Jahrhundert sowohl an der Art des verwandten Schmucks - Mosaik, gebrannte Majolika oder Terrakotta - als auch an den vorherrschenden Farben erkennen oder daran, ob die Kuppeln gerippt sind oder glatt sind. Und figürliche Darstellungen wie am Eingang der Medresse Sher Dor oder in Buchara an der Medresse Nadir Diwan Begs ließen immer auf schi’itischen Einfluß schließen, allerdings muß das nicht zwingend immer so sein. In den Jahrhunderten der islamischen Geschichte Mittelasiens gab es lange Perioden, in denen Sunniten uns Schi’iten friedlich zusammenlebten, doch es gab, besonders in Buchara wiederholte Pogrome gegen die beträchtliche  Schi’itische Minorität, zuletzt 1910. Merken kann ich mir das alles nicht und ich nehme es auch eigentlich mehr beiläufig auf. Ich bin bereits von der Atmosphäre dieses Ortes gefangen, ohne dieses Gefühl so ganz genau benennen zu können. Und dieses Gefühl ist mir viel wichtiger.

 

 

 

Exkurs: Die Ostlegionen der Wehrmacht und SS

 

Was für eine Symbolkraft die Nekropole bereits in den 30er Jahren gehabt haben muß, davon berichtet das obige Bild: es zeigt einen Ärmelaufnäher, für die „Turkbataillone“ der deutschen Wehrmacht im Ostfeldzug. Das Bild haber ich dem Buch "Joachim Hofmann, die Ostlegionen 1941-43, S. 36, Rombach-Verlag Freiburg, 1986 entnommen. Die Aufschrift, Tengri biz menem heißt genau wie Allahu akbar, Gott ist groß.

 Die exilierten Angehörigen der unterworfenen Völker des Russischen Reiches, später der Sowjetunion waren bereit, im Verband der Wehrmacht gegen die Sowjetunion zu kämpfen, distanzierten sich aber von den entsprechenden „großrussischen“ Aspirationen, für die der Name des Generals Andrej Andrejewitsch Wlassow steht.

Bildnachweis: Hoffmann, Ostlegionen. Bildunterschrift: Turkestanischer Unterführer – so die Bildunterschrift - spricht mit dem deutschen General v. Köstring. Auf dem Ärmel ist deutlich das obige Abzeichen zu erkennen.

So dienten in den Jahren 1941 bis 1945 allein 181.000 „Turkestaner“ in Wehrmacht, Waffen-SS und später auch der Allgemeinen SS, von denen 70.000 in deutschen Diensten fielen. Für sie stehen Namen von Exilpolitikern wie Veli Kajum Chan oder Baymirza Hayit. Gefördert wurde der Aufbau solcher Verbände von Persönlichkeiten wie dem damaligen Oberst i.G. Reinhard Gehlen, dem späteren Begründer des BND, sowie Dr. Oskar Ritter v. Niedermayer, dem damaligen Major i.G. Claus Graf Schenk von Stauffenberg oder dem Göttinger Orientalisten Spuler, der an der Göttinger Universität z.B. Lehrgänge für „Feldmullas“ abhielt, da man festellen mußte, daß die Fähigkeit zur religiösen Betreung in 20 Jahren Sowjetherrschaft schon schwer gelitten hatte und die Zerschlagung der reilgiösen Traditionen einer der Punkte war, den man den Sowjets besonders verübelte.

Zwar hatten sich die Völker Mittelasiens das erste Mal schon 1916 gegen den russischen Kolonialherrn erhoben, doch von "Basmachi" spricht man erst, seit sich die Muslime Zentralasiens, von den viele bereits nach Afghanistan geflüchtet waren, gegen die Bolschewiken erhoben hatten. Entgegen dem, was Wikipedia schreibt, dauerten die Basmachi-Aufstände und -Angriffe bis in die 40er Jahre.

Per Erlaß waren die „Feldmullas“ den christlichen Militärgeistlichen gleichgestellt. "Mulla" war die Amtsbezeichnung eines einfachen Feldgeistlichen, der Vorgesetzte war der "Obermulla". "Obermullas" waren Obersten gleichgestellt.

„Turkestaner“ dienten außer in Kampfunterstützungseinheiten in 26 verstärkten Infanteriebataillonen sowie 111 selbständigen „taktischen Einheiten“. Laut Joachim Hofmann (J. Hofmann, Kaukasien 1942/43 – das deutsche Heer und die Orientvölker der Sowjetunion, Rombach-Verlag Freibug, 1991 ), der sich als Leiter des militärhistorischen Forschungsamtes in den Jahren und unter den Auspizien des Kalten Krieges hier in Deutschland wohl am intensivsten mit dieser historischen Problematik auseinandergesetzt hat und dessen Werke, übersetzt von Alexander Solschenizyn, mittlerweile auch in Russland erschienen sind, berichtet, wie sich diese „landeseigenen“ Verbände von zunächst verachteten, mit alten sowjetischen Uniformen und Beutewaffen ausgestatteten "HiWis" Hilfswilligen zu gleichberechtigten Kameraden in deutschen Uniformen mit nationalen Ärmelaufnähern. Der Kampf dieser muslimischen Exilanten wurde diskreditiert durch Einheiten wie die Waffen-SS-Division „Handschar“, verantwortlich für Massaker an den Serben oder den „Schutzpatron“ der Muslime in deutschen Diensten, Hadji Mohammed Emin al-Husseini, Großmufti von Jerusalem, der nach dem Krieg von den Briten zunächst als Kriegsverbrecher gesucht wurde, was ihnen später jedoch nicht mehr so wichtig war.

Gleich ihren russischen Schicksalsgenossen konnten die Überlebenden nach dem Kriegsende nicht in die Sowjetunion zurück, da Stalin selbst jene, die unfreiwillig in deutsche Gefangenschaft geraten waren, als Verräter, wenn nicht mit dem Tod, so doch mit zumindest 20 Jahren GULag bestrafte, die die, denen es gelang zu überleben, auch nach Stalins Tod ihre Strafe bis zum letzten Tag absitzen mußten, da sie nicht in das Geschichtsbild vom „einigen Sowjetvolk“ passten.Heute sieht man diese Menschen auch in Russland differenzierter.

Viele traten auch in amerikanische Dienste, z.B. die muttersprachlichen Dienste von Radio Free Europe und Radio Liberty und viele blieben auch in Deutschland.      

 

Noch ein Friedhof

 

 Nachdem wir alle Bauwerke angeschaut haben, gehen wir zunächst an der Totenstadt vorbei. In unmittelbarer Nähe liegt ein recht moderner Friedhof. Die Grabsteine sind faszinierend: offenbar wurde hier - die Technik ist mir nicht ganz klar - immer eine Fotografie des bzw. der Verstorbenen auf den Grabstein geätzt und zeigt den Einfluss der russischen Traditionen.

 

So zeigt zum Beispiel der Grabstein eines jungen Mannes etwas für den Toten sehr Wichtiges: unter seinem Bild, einer feierlichen Portraitaufnahme, fährt von links ein Auto mit einer Nummer auf der Motorhaube auf den Betrachter zu, von rechts ein Motorrad und die beiden Fahrzeuge müssen irgendwann zusammenstoßen. Es bleibt unklar, ob der junge Verstorbene selber aktiver Motorsportler war und hier der Unfall dargestellt wurde, bei dem er ums Leben kam, oder seine Hinterbliebenen mit diesem Bild einfach nur darstellen wollten, wie sehr er doch den Motorsport geliebt hat. Ein weiterer sehr schöner Grabstein eines Professors für Geographie zeigt neben einem Bild des Toten einen Globus.

n der Umgebung des Friedhofs und auch vereinzelt schon in der Nekropole sind an Bäumen und Pfählen bunte Stoffstreifen angebracht. Ein Baum auf dem Friedhof ist völlig übersät davon, so sehr, daß es fast aussieht, als seien die Stoffstreifen die Blüten des Baumes. Hier habe offenbar nicht nur ich mich an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnert. Doch ist für mich dieses gesamte Ensemble mehr mitten im Leben, als beispielsweise christliche Friedhöfe. Trotz der auch auf alten christlichen Friedhöfen sehr oft wunderschönen künstlerischen Ausgestaltung der Gräber wirkt ein christlicher Friedhof auf mich immer beklemmend, morbide und hat immer etwas von endgültigem Abschiednehmen, während die Toten hier sicherlich noch den Herzen der Lebenden nahe sind.

Wir kommen an die Türe des Mausoleums von Kutham ibn Abbas. Wir kommen an die Tür des Mausoleums von Kutham ibn Abbas, die Paradiespforte, eine wunderschöne Schnitzarbeit, die früher einmal mit Silber und Elfenbein verziert war. Heute sieht man „nur“ noch das Holz und selbst das ist einfach überwältigend. Rechts am Eingang eine Nische, die, so, wie ich es verstanden habe, die gestifteten „Opferkerzen“ aufnahm. Genau das gleiche findet man heute noch in den Moscheen von beispielsweise Fès - auch, wenn es das „christlich“ auch gibt, welch ein wunderschöner Brauch: Licht zum Himmel zu schicken!

Auch der obenerwähnte Brauch, nämlich in einem „heiligen Bezirk“ Opfergaben darzubringen, zeigt für mich die wunderbare Kraft einer lebendigen Hochreligion, bestehende Spiritualität zu integrieren und sich dadurch bereichern zu lassen.

Wir gehen in die Moschee und nur der Zweifel, ob sich eine Frau so ohne Weiteres auf den Gebetsteppich in der Gebetsnische begeben kann, hält mich hier vom anstehenden Mittagsgebet ab.

Andrej erzählt mir noch, daß unterhalb des Grabes früher immer und ausschließlich Frauen weggeschlossen wurden, aus irgendeinem religiösen Zweck, der ihm nicht klar sei. Ich nehme an, es hat sich um ein Halvet[i] - speziell für die Derwischausbildung von Frauen - gehandelt. Ein Halvet ist ein meist 40-tägiger Rückzug in die völlige Abgeschlossenheit, mit Gebeten, Fasten und besonderen Übungen. Integraler Bestandteil vieler Sufi-Wege, unterscheidet sich von Tariqat zu Tariqat meistens nur darin, auf welcher Stufe der Ausbildung der Muriden (Schüler) ins Halvet geht, sowie in der Häufigkeit und ggf. Dauer. Üblich sind meistens 40 Tage, doch sind auch Halvet von mehreren Jahren Dauer möglich.

Aus Reiseberichten weiß ich, daß das Maqam ( Angenommene Grabstelle eines Propheten , Heiligen oder großen Scheichs. Möglich sind auch mehrere Maqamat, entweder, weil der Leichnam „umgebettet“ wurde, Teile an mehreren Orten begraben wurden, oder weil der Wunsch, er möge dort begraben sein, möglicherweise zu seiner tatsächlichen spirituellen Präsenz an diesem Ort geführt hat und die Barakat, die er weiterleitet, dort wirkt. Vielleicht verhält es sich ja mit den mehreren Kubikmetern vom Kreuz von Jesus Christus genauso?) . Jedenfalls ist bekannt.  ein stark freqentierter Wallfahrtsort für kinderlose Frauen war, und noch Egon Erwin Kisch berichtet 1931, daß die Gebete der Frauen auch erhört wurden - er berichtet es zwar mit hämischem Unterton, aber immerhin, woraus man entnehmen kann, daß es sich lohnt, Bücher auch mal „gegen den Strich“ zu lesen - und so kann man selbst den Berichten von Egon Erwin noch einen gewisssen Wert beimessen...

Wir gehen bis zum Grabraum von Kutham ibn Abbas. Ich erfahre, daß das Gitter vor dem Sarkophag früher mit mehreren Lagen Stoff war und der Pilger/die Pilgerin für das Entfernen jeder einzelnen Lage beten und sadaqa entrichten mußte. Für Andrej ist es lediglich ein erneuter „Ablaß“-Trick...

 

Ein alter und ein junger Mann beten gemeinsam am Sarg. Dreimal wird die Sure al-ikhlas rezitiert, die  112. Sure des Koran. Mit ihr bezeugt der Muslim die Einheit und Einzigartigkeit Gottes. „Sie formuliert das Konzept, daß Gott der ,erste Urgrund’ sei, ewig und unabhängig, anfangslos und ohne Ende, jenseits jeden menschlichen Verständnisses...“ (M. Asad). Es handelt sich um eine mekkanische Sure, von der der Prophet (a.s.s.) gesagt haben soll, sie repräsentiere ein Drittel des Koran, wie von Buchari, Muslim, Ibn Hanbal, Tirmidhi, Ibn Majah und anderen überliefert wird. Nach einem der Großscheichs des Naqshbandi-Sufi-Ordens, Großscheich Abdullah Faiz ad-Daghestani hat jeder, der diese Sure rezitiert, Anteil an der Göttlichen Gnade der beiden Schönen Namen, al-ahad , der Eine, Einzigartige, und as-samad der Ewigbeständige.

 

Sure 112, al-ikhlas, der reine Glaube.

 

Die Sure von der Einzigartigkeit Gottes

 

Die Stimme des Alten geht mir durch und durch - eine Stimme, wie ich sie bisher nur im Gemeinschaftsgebet buddhistischer Mönche gehört habe, ein kellertiefer Baß. Ich habe das Gefühl, mein ganzer Körper vibriert. Ich kann nicht anders, ich muß mich einfach dazusetzen. Sicherheitshalber betrete ich den Raum allerdings nicht, sondern setze mich in den Türrahmen. Ich will schließlich nichts falsch machen. Das Gefühl, das mich überwältigt, kann ich nicht beschreiben. Genau das habe ich gesucht! Eine solche Erfahrung wird einem geschenkt, so etwas kann man nicht einplanen!

 

Völlig betäubt bewege ich mich mit Andrej wieder dem Eingang zu. Am Eingang bitte ich ebenfalls um ein Du'a für mich und wir kommen mit den Männern intensiver ins Gespräch. Der Deutschland-Reisende stellt sich als Imam Katib der Samarkander Zentralmoschee vor und lädt mich ein, die Zentralmoschee zu besuchen. Allerdings werde ich vorher wieder geprüft, denn die Pilgerbescheinigung der Münchner Moschee überzeugt nicht; Papier ist geduldig und München 7.000 km weit weg...

Auf die Frage, ob ich etwas aus dem Koran rezitieren könne, wirft Andrej ohne mich zu fragen ein, ich würde das gerne mal vormachen. Zuerst schnappe ich mal nach Luft, doch dann akzeptiere ich, werde in die Bet-Ecke bugsiert, rezitiere die Fatiha[, Sura al - Ikhlas und die Schutzsuren und die Männer stehen ihrerseits mit nach oben geöffneten Händen um mich herum. Es ist schon ver-rückt...

 

Die erste Sure, al-fatiha, die Eröffnende

 

 

Die Sure al-Fatiha, „Die Eröffnende“, die erste Sure des Koran. Wird obligat in jeder Gebetseinheit als erste rezitiert. Man sagt, daß in ihren sieben Versen die gesamte Essenz des Qur’an enthalten ist: Gott allein gebührt die Anbetung, nur Er kann ein Schicksal wenden, nur Er richtet am jüngsten Tag. Seine Barmherzigkeit ist grenzenlos. Deswegen ist der bekannteste Namen für diese Sure: umm al-Qur’an, Mutter des (gesamten ) Buches. Buchari überliefert, daß der Prophet selbst ihr diesen Namen gegeben habe. Weitere Namen sind: surat al-hamd, die Sure der Lobpreisung, asas al-Qur’an, das Fundament des Qur’an oder Fatihat al-Kitab, die Eröffnung der Göttlichen Anordnungen. „Die Eröffnende“ gehört mit zu den frühesten Offenbarungen, und einige Autoritäten, so z. B. Ali ibn Abi Talib waren sogar der Meinung, sie sei die allererste Offenbarung gewesen, was allerdings durch die von Buchari und Muslim überlieferten Traditionen widerlegt wird (M. Asad). Sie enthält zwei der Schönen Namen, ar-rahman und ar-rahim.. Beide leiten sich ab von rahma, Mitgefühl, Mitleid, zärtliche Liebe, Gnade. Der Unterschied zwischen beiden ist: rahman bezeichnet die göttliche Eigenschaft der grenzenlosen Gnade, rahim die wiederholte Handlung. Gott ist nicht nur einmal barmherzig, sondern fortwährend, und schreibt Sich Selbst dies auch vor.

 

Nach Großscheich Abdullah Faiz ad-Daghestani sollte die Fatiha das erste Mal rezitiert werden mit der Absicht, an den Segnungen teilzuhaben, die mit ihr herabkamen, als sie das erste Mal in Mekka geoffenbart wurde. Wird sie zum zweiten Mal rezitiert, so sollte das mit der Absicht geschehen, an der Göttlichen Gnade teilzuhaben, die herabkam, als sie zum zweiten Mal in Medina geoffenbart wurde. Er sagte weiter: „Rezitiert jemand die Fatiha, so wird er diese Welt nicht verlassen, ohne etwas von dem Göttlichen Segen erhalten zu haben, der sich hinter der Bedeutung von al-Fatiha verbirgt. Und dieser Segen befähigt ihn, sich Gott, dem Allmächtigen und Erhöhten zu ergeben. Jeder, der die Fatiha rezitiert mit der Absicht, an der Göttlichen Gnade teilzuhaben, wird einen hohen Rang einnehmen. Doch auch der, der sie ohne diese Absicht rezitiert, wird an den Göttlichen Wohltaten teilhaben, allerdings nur an ihnen allein.

 

Sure 113, al-falaq, die Morgendämmerung, 

die erste Schutzsure

 

 

 

 

Sure 114, an-nas, die Menschen,

 

die zweite Schutzsure

 

Mit der Rezitation der 113. Sure, al-falaq wird Schutz erfleht vor dem Übel, das von außen auf die Menschen zukommt , mit der Rezitation der 114. Sure, an-nas, Schutz vor dem Übel aus dem eigenen Inneren. Mit „Morgengrauen“ soll auch gleichzeitig das (Wieder)-Aufkommen der Wahrheit nach einer Periode der Unwissenheit. „Der Herr des Morgengrauens“ ist somit die Quelle aller Wahrheit - bei Ihm Zuflucht zu suchen, bedeutet, nach dem Wahren Wissen zu streben. Die „Nacht“ bedeutet sowohl die Nacht des nahenden Todes und die Furcht davor, als auch die „dunkle Nacht der Seele“, der Augenblick der Verzweiflung, aus dem Gott allein der Ausweg ist. Das „Knotenblasen“ bezeichnet die Praxis eines prä-Islamischen arabischen Schadenszaubers und steht hier sowohl stellvertretend für alle im Islam verbotenen magischen Praktiken als auch für alle Negativität, die Menschen auf Menschen richten können - sei es in Taten, Worten oder auch nur in Gedanken. Und der Neid, auch im Christentum eine der sieben Todsünden, steht hier stellvertretend für die schlimmsten Übel des Menschen am Menschen, denn um seinem Mitmenschen dieses Übel anzutun, braucht man nicht einmal die Hand zu erheben.

 

Der Einflüsterer steht für Schaitan, den Satan in uns, die negative innere Stimme, die uns zum Bösen verleitet, die gestärkt wird durch die Blindheit unserer eigenen Herzen, unsere Gier, unsere Vorurteile, Gewohnheiten und Konditionierungen, sowie die Spuren, die unsere begangenen Sünden in uns selbst hinterlassen haben. Ein Heilmittel dagegen ist das istighfar, die Rezitation von astaghfirullah (Allah, verzeih mir), mit dem beispielsweise das Naqshbandi-Dhikr jede Stufe beginnt.

 

Die Realität des Größten Namens Gottes ist mit diesen beiden Suren verbunden. Sie markieren das Ende des Koran und sind somit mit der Göttlichen Gnade verbunden.

Der Vortrag scheint überzeugt zu haben. ich werde gelobt und bekomme ein set Ansichtskarten geschenkt. Als ich den Imam Katib danach nach seiner Adresse frage - nachdem ich ihm meine gegeben habe - , merke ich wieder diese Reserviertheit. "Ich habe gesagt, ich bin der Imam Katib der Zentralmoschee. Kommen Sie in die Moschee und fragen Sie nach mir, nach dem Imam, das reicht." 

Eigentlich möchte ich in der Nekropole bleiben und mache Andrej den Vorschlag, alleine mit dem Taxi zurückzukommen, was er jedoch strikt ablehnt. Wir fahren mit Father John zurück, ich falle in den nächsten Sessel und schlafe bis zum Iftar fest und tief.