Ein Land definiert sich durch seine militärischen Siege - für Russen heisst das: die Schlacht auf dem Eis, die Schlacht auf dem Kulikowo Polje, Borodino, Stalingrad und jetzt ... Marseille.
Es war ein überwältigender Sieg, einer für die Geschichtsbücher. Die Russen waren deutlich in Unterzahl. Ihnen gegenüber standen die massenhaften Reihen der Engländer. An der Seitenlinie saßen die Franzosen und warteten, wie sich die Schlacht denn entwickeln würde.
Doch unsere tapferen Russen waren bis an die Zähne bewaffnet, diszipliniert, kampfgestählt von den Bürgerkriegen die sie in St. Petersburg und Moskau gekämpft haben, sowie narbiger Veteranen, die aus der Ukraine und Syrien zurückgekommen sind.
Man schloss sich der Schlacht an und die Engländer wurden alsbald dazu gebracht, zu fliehen, zu fliehen durch die dunklen Straßen der Altstadt, sich duckend unter den Schlägen unserer Krieger, die blutbedeckt und mit freiem Oberkörper angriffen...
Die Schlacht von Marseille am 11. Juni 2016, (c) REUTERS
Um ehrlich zu sein: es gab in Russland nicht viele, die dachten, daß das Spiel gegen England einen anderen Ausgang als eine Niederlage haben könnte. Es waren nicht nur die Buchmacher (die Wetten zu höchst unpatriotischen Quoten annahmen); ein weitverbreitetes Gefühl von Pessimismus hatte sich vor dem Spiel über Russlands Bars und Wohnzimmer gelegt. Man könnte das in etwa so zusammenfassen: "lasst uns zumindest versuchen, eine demütigende Niederlage zu vermeiden, und wenn wir Glück haben, dann schießen wir vielleicht ein Tor.
Doch dann passierte etwas Unglaubliches. Am Schluß haben wir nicht nur einen Punkt gemacht, sondern sogar ein Unentschieden geschafft, in der Nachspielzeit, als wir schon alle Hoffnung fahren liessen. Das hätte man in das Drehbuch für einen Hollywood-Blockbuster schreiben können.
Und worüber redet ganz Russland - tatsächlich ganz Europa - wenige Tage nach dem Spiel? Nein, nicht von der wundersamen Wendung oder dem Zustand der Nationalmannschaft(übrigens garnicht mal so schlecht), sondern vom massiven Kampf, der nach dem Spiel ausbrach.
Die Schwierigkeiten, die, im Stadion selbst, nach dem Schlußpfiff begannen, und dann auf die Straßen von Marseille herüberschwappen, wurde zum Thema Nr. 1 in den Sozialen Medien und den nationalen Fernsehstationen.
Russland-24, zum Beispiel, präsentierte die Story eindeutig als "einen Angriff au die russischen Fans" (so, wie deren Korrespondent sagt, als Vergeltung für den Wurf nur einer einzigen Münze).
Zwei andere Fernsehstationen, NTV und REN-TV blieben bei der gleichen Story doch setzten einen anderen Schwerpunkt: mit kaum verhohlenem Vergnügen tönten sie, daß die Russen, obwohl schwer in Unterzahl geschafft hätten, die Engländer in die Flucht zu schlagen. DerSportkanal "Match" betrieb einen Twitter-Kanal, als würde er aus einem Kriegsgebiet berichten, in dem "unsere Jungs" es geschafft haben, den Feind zurückzudrängen und die Oberhand zu gewinnen.
Auf dem T-shirt steht "я русский", ich bin Russe.
Die Offiziellen hielten sich auch nicht zurückgehalten, zum Beispiel sagte der stellvertretende Duma-Sprecher, Igor Lebedew (Sohn von Politclown Schirinowski.DS): "Ich sehe nicht, daß kämpfende Fans falsch sind. Im Gegenteil: gut gemacht, Jungs, weiter so!"
Und Wladimir Markin, ein Mitglied des russischen Investigativkomitees (der Präsidentialverwaltung unterstellte Schatten-Generalstaatsanwaltschaft. DS) tweetete, daß der Leiter der Staatsanwaltschaft von Marseille die russischen Fans "Schläger" und "gut ausgebildete Kämpfer" genannt hatte:
"Normale Männer, die sie sein sollten, können das nicht in den Griff bekommen. Die gehen nur mit der Sorte ,Männern' um, wie man sie auf Schwulenparaden sieht."
Das klingt nach dem Terrorangriff von Orlando besonders beleidigend.
Der Bericht über ausgebildete Hooligans erreichte auch den sogenannten "liberalen Flügel" der russischen Medien und blogger vertieften das.
Polizeispekulationen, daß einige der Fans in schwarzen T-shirts über die Schweiz nach Marseille gekommen sein, in erster Linie um die Grenzkontrollen zu vermeiden, breiteten sich lawinenartig aus und gingen in eine Verschwörungstheorie über, nach der der FSB, Ostukrainische Separatisten und wer weiß wer sonst noch mit denen zu tun habe.
Es gibt jedoch keine ernste Gründe, anzunehmen, daß diese Schläger "Grüne Männchen" waren, amders angezogen - die unmarkierten Mitstreiter des ukrainischen Konflikts,die nun die baltischen Staaten, Polen und andere osteuropäische Staaten in Angst und Schrecken versetzen.
Wahrscheinlicher ist, daß sie wirklich bloß Mitglieder einer russischen Fußball-"Firma" - dies ist eine Aussage, der, das sollte zur Kenntnis genommen werden, die meisten unabhängigen Sport-Webseiten in Russland zustimmen. Sie haben zuvor so gekämpft und sie kämpfen immer noch und werden das fortsetzen. Dafür sind sie nach Frankreich gekommen und sie haben bekommen, was sie wollten.
Nein, die wirkliche Frage ist, warum solches Benehmen in Russland anstatt Verurteilung solche Unterstützung erhielt? Diese Schläger, die ohne Grund und aus dem Nichts kamen, werden soeben im Wortsinne vor unseren Augen in Nationalhelden verwandelt.
Eine neue Mythologie wird geformt, in der aus einigem betrunkenen Flegeln mit freiem Oberkörper, die Eisenstangen schwenken, 300 tapfere Spartaner unter russischen Hüten werden. Schändlicherweise von den Engländern angegriffen, hatten "unsere" Jungs keine andere Wahl als zurückzuschlagen. In dieser großen und ehrenvollen Sache schlossen sich ihnen die Franzosen an, mit denen sie die Engländer vertrieben.
Was wirklich passiert ist, bedarf immer noch der Aufklärung durch die UEFA, doch selbst, wenn man sich mit den wenigen Amateurvideos, die wir bis jetzt haben, kann man die russischen Fans nicht als unschuldige Opfer bezeichnen. doch das macht in den Abendnachrichten des russischen Ersten und Zweiten Kanals keinerlei Unterschied - ein Video zu editieren ist einfach genug.
Doch vielleicht der deprimierendste Aspekt dieses schändlichen Spektakels ist der, wie im heutigen Russland, im Jahr 2016 patriotiische Gefühle durch solche erbärmlichen Scharmützel geweckt werden müssen, und die ordinäre, flegelhafte Unterstützung derer, die darauf reagieren. Das sind Leute, die ganz klar nicht erkennen, daß sie durch die Ermutigung solchen Verhaltens eine tickende Zeitbombe unter die eigenen Füße legen. Denn die Kids, die nun Fußball im Fernsehen sehen, werden das alles in sich aufnehmen, und wenn sie anfangen, ihrer Regierung Fragen zu stellen - was sie eines Tages ganz sicher tun werden - werden sie sich daran erinnern, wie solche Probleme gelöst werden: mit eine geballten Faust und etwas militärischem Know-how.