Dieser Artikel von mir wurde 2013 auf dem Online-Portal der Zeitschrift INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten) veröffentlicht. Ich hatte damals an einem Beispiel aufgezeigt, wie in den Medien eine gefühlte Wahrheit erschaffen und zur Realität umgedeutet wird. Und wenn es dann in vielen Medien nachlesbar ist, muss es ja stimmen.
Genauso wurden die Rechtspopulisten von AfD und Pegida hochgeschrieben: wenn so viele über sie berichten, bis hin zu Homestories in GALA und BUNTE, und auch die SZ wusste über "dämonenhaft Schönes"zu berichten. Aber ich bleibe jetzt erstmal bei der Kipferl-Fatwa. Den Artikel aus 2013 habe ich überarbeitet.
Bildnachweis: al-Qaida-Ideologe Abu-Muhammad al-Maqdisi. z.b. Memri.org . Maqdisi soll mittlerweile tot sein.
Ein österreichisches Boulevardblatt meldete am 5. August, im nicht von der Regierung gehaltenen Teil Aleppos sei eine Fatwa gegen „unsere Kipferl“, ein halbmondförmiges, mit Vanille angereichertes, Süßgebäck erlassen worden. Wie war das genau? (Da die Seite nur noch über die wayback-machine aufrufbar ist, habe ich sie mal als pdf-abgespeichert).
Dekoriert wird der Artikel mit dem Bild eines jordanisch-palästinensischen Salafisten, Abu-Muhammad al-Maqdisi (s.o) Syrische Religionsgelehrte tragen meines Wissens eine völlig andere Kopfbedeckung, wie der regimetreue Großmufti von Syrien und Vorsitzende des syrischen Fatwa-Rates, Scheich Dr. Ahmad Badr ad-Din Hassoun.
Soll ich jetzt annehmen, daß jemand sich die Mühe gemacht hat, nachzugooglen, daß Dr. Hassoun, abgesehen von seiner Treue zum Assad-Regime, doch recht moderate religiöse Ansichten vertritt? Oder, daß jemand dem Assad-Regime einen Gefallen tun wollte?
Nein, irgendjemand hat irgendwo was aufgeschnappt und mit eigenen Phantastereien angereichert...
Die Quellen
Zieht man mögliche internationale Quellen zu Rate, so zeigt sich erstens, daß nirgendwo von österreichischen „Kipferln“ die Rede ist, sondern überall von „French Pastry“ oder Croissants– übrigens switcht der österreichische Text schon im nächsten Absatz auch zur französischen Leckerei.
Man findet die Story als Erstes am 8.Februar 2013 bei ynet.news, die diese Fatwa gleich bei der Freien Syrischen Armee verortet, bei der französischen Internetpräsenz von irib am 25. Juli, wobei die Nusra-Front als der Autor ausgemacht wird, bei al-Arabiyya am 30. Juli (mit den "Rebellen" als Übeltäter), als erstes italienisches Blatt publiziert „Secolo d'Italia“, Parteizeitung der Berlusconi-Partei „Volk der Freiheit“, die Geschichte ebenfalls am 30. Juli.
Die Washington Post bringt sie am 31. Juli, am 1. August steht sie bei „Daily Mail“, deren Star-Kolumnistin, Thatcher- und Fallaci-Fan, Melanie Phillips übrigens ein Schwergewicht in der internationalen „Counter-Jihad“-Szene ist und sich gegen die Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften und Homosexuelle überhaupt stark macht; im niederländische Portal nujij, wie auch in der Internetpräsenz von RTL-France, steht sie am 1. August, die Huffington Post steigt am 1. August ein, am 2. nochmal, und legt sogar noch mit einem Video nach, die Internetpräsenz der TIME bringt es auch am 2. August, Asharq al-Awsat am 3. August, am 4. August, auch jewsnews. Ja, und nicht zu vergessen: das größte, schönste und wichtigste Islamhasserportal in Deutschland brachte auch gleich am 30. Juli eine Übersetzung des al-Arabiyya-Eintrags.
Und am 5. August werden in Österreich aus den Croissants halt Kipferln – zumindestens für eine gute Schlagzeile.
Bildnachweis: die Washington Post beschreibt die schwarze Flagge schon als Flagge des IS, damals noch "ISIL".
Die Zugaben
Die Geschichte wird angereichert mit jener schwarzen Flagge, die mittlerweile als "die Flagge" des IS weltbekannt ist, („Washington Post“), bei al-Arabiyya taucht das erste Mal der Begriff „colonial“ auf und das erste Mal ein Link auf den angeblichen Twitter-Post der Fatwa, schreibt aber auch, daß sich „einige Internet-Quellen“ bereits über die Fatwa lustig machten, und meinten, dass sie keiner in den syrischen Konflikt verwickelten Gruppe zuzuordnen sei, Daily Mail hat noch einen: Gefängnisstrafe für die, die wegen des Ramadan nicht fasten – garniert mit einem Bild der syrischen Opposition. Darüber, dass der Autor/die Autoren der Fatwa einer Legende aufgesessen seien, macht sich nicht nur TIME lustig, sondern auch jewsnews, Secolo d'Italia berichtet das auch, allerdings sachlich. HuffPost bringt die Geschichte mit der angeblich 1686 erfolgreich verhinderten Eroberung von Budapest durch die Türken in Zusammenhang – man kann schließlich nicht immer 1683 und die Türken vor Wien bemühen. Aber ansonsten ist es die gleiche Geschichte: ein nächtens backender Bäcker hörte Grabegeräusche...
Zusammengefasst kann man wieder einmal sehen, wie die Presse – selbst die „Qualitätsmedien“– heute meistens arbeitet: einer schreibt vom anderen ab, jeder reichert die Geschichte nach eigenem Gusto an – selbst die „Leitmedien“. Und je öfter eine „Wahrheit“ verkündet wird, desto wahrer wird sie – und wer zweifelte schon an einer Geschichte, die von „Qualitätsmedien“ in aller Welt berichtet wird.
Ein Medium hebt sich allerdings ab: Ynet.news, die Internetpräsenz der israelischen Zeitung „Yediot Ahronot“ berichtet bereits am 8.Februar – als erste!
Schlußendlich: die Fatwa
Huffington Post verlinkt auf einen Twitter-Eintrag eines – nicht weiter erklärten – Bloggers namens „Thabet_UAE“ aus AbuDhabi, der auch ein blog betreibt, das seit einem recht patriotischen Eintrag zum 40. Jubiläum des Zusammenschlusses der Emirate 2011 mit der Überschrift „Ein ewiges Band: Scheich Zayed und die Erschaffung (sic!) eines Landes“ nicht mehr weitergeführt wurde. „Thabet_UAE“ veröffentlichte die angebliche Fatwa auf Twitter. Dort steht auch das Datum der Herausgabe: 2. Ramadan 1434 bzw 12. Juli 2013!!! Thabet_UAE hat das angebliche Dokument am 26. Juli 2013 veröffentlicht. Da verneigen wir uns vor den investigativen Spürnasen und -näsinnen von Ynet.news, die die Geschichte über die Fatwa schon fünf Monate vor deren Veröffentlichung brachten. So geht investigativer Journalismus – oder etwa nicht? Nur der Vollständigkeit halber: von „kolonial“ steht nichts im Text. Zu Thabet UAE's Followern gehört übrigens der ARD-Journalist Constantin Schreiber, dessen Islam-Expertise zumindest kontrovers diskutiert wird.
Kurz der Inhalt der angeblichen Fatwa: Das Croissant ist ein Gebäck der Ungläubigen, seine Halbmondform symbolisiert den Sieg der Christen über den Islam, der vor den Toren Wiens gestoppt wurde. Möglich war dies durch eine Verschwörung des Vatikan.
Etwas vergessen?
Nur in vieren dieser Veröffentlichungen - irib, WP, RTL und Secolo d'Italia - erfahren wir ein nicht ganz unwichtiges Detail: dass es sich eben nicht um eine „offizielle Fatwa“ – Daily Mail versucht genau diesen Eindruck mittels Einbinden eines entsprechenden Fotos zu erwecken - der „Syrischen Nationalen Koalition“ handelt, sondern dass sie möglicherweise ein weiterer Versuch der Machtausbreitung einer extremischen Gruppe handelt, namentlich Jabhat al-Nusra. (SNR? Eine säkulare Koalition stellt Fatwas aus? In der Tat eine „Neuerung“). Möglicherweise kam diese "Fatwa" auch von den Anfängen des Islamischen Staats, möglicherweise auch fake news, wer weiß das schon ... Die Nachricht ist jedenfalls, wie sich die "Nachricht" von der Fatwa im August 2013 verbreitete.
Der ganze Unfug folgt dem bekannten Strickmuster: irgendein Schwachkopf hat was gesagt, und das mutiert dann zum hochoffiziellen Fatwa und zur unausrottbaren - gefühlten - Wahrheit.
Dankenswerterweise hat sich Radio Wien der Sache angenommen (ORF hat den Inhalt dann auf ihre Homepage gesetzt) und den Obmann der Initiative muslimischer Österreicher_innen, den
gebürtigen Syrer Tarafa al-Baghajati, dazu befragt: Baghajati belegte seinen Fälschungsvorwurf mit der Nicht-Befolgung auch der mindesten formalen Kriterien für eine Fatwa: „Eine Fatwa muss
von einem bekannten Gelehrten mit Namen und Adresse bekanntgegeben werden. Diese kolportierte Fatwa stammt von einem Abu Muhammad. Das ist nicht einmal ein Name, sondern die
Bezeichnung, dass er der Vater von Mohammed ist. Davon gibt es Millionen in der arabischen Welt“,
sagt Baghajati. Und weiter:
"Das Problem ist es, Brot zu kaufen. Ein Kilo Brot kostet fast ein ganzes Monatsgehalt. Die Diskussion mit dem Thema ist ein unglaublich zynischer Umgang mit den Notleidenden in
Syrien“ .
Tarafa Baghjati hat auch das "Märchen vom Muslim, der Weihnachten stiehlt" , filettiert und kommt in seinem Gastartikel zu dem gleichen Schluss wie ich:
Es ist äußerst bedauerlich, immer wieder feststellen zu müssen, dass negative Schlagzeilen zum Islam sich von Medium zu Medium wie ein Lauffeuer verbreiten, ohne dass die vielen beteiligten verantwortlichen Redakteure auf die Idee kommen würden, ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nachzukommen. Stattdessen wird die Geschichte auch noch ausgeschmückt und angereichert.
Es gibt viele andere Geschichten, da wurde das jeweilige Thema ähnlich behandelt. Ich halte das für eine gängige Arbeitsweise der meisten Journalist*innen, von wenigen lobenswerten Ausnahmen wie z.B. Horst Kläuser, Heribert Prantl, Alan Posener und Christoph Reuter mal abgesehen. Zu ideologischer Verbohrtheit kommt eine Arbeitsweise, die ihnen so nicht beigebracht worden sein kann: schnell Zusammengeschustertes anstatt sauberer Recherche, wie auch im nebenstehenden Beispiel. Die meisten Medien sind in ihrer Qualität von simplen Blogs nicht mehr unterscheidbar und brechen wirtschaftlich zu Recht ein, für alternative Fakten und gefühlte Wahrheiten sollte niemand auch nur einen Euro ausgeben. Es bleibt nur zu hoffen, daß sich solche Inititativen wie Correctiv durchsetzen und denen, die für sie arbeiten, ein ordentliches Auskommen bieten.
Für die Verschärfung des politischen und gesellschaftlichen Klimas sehe ich Verantwortung auch bei unseren Medien - aus dieser Verantwortung sollte man sie nicht entlassen.