Ich, die Ärzteschwemme

Wenn man heute so viel über angeblichen oder tatsächlichen Ärztemangel liest, vergisst man, daß der eine Vorgeschichte hat: die Ärzteschwemme der 80er und 90er Jahre, in die ich seinerzeit mitten hineingeriet. Daß ich mich nach dreissig Jahren endlich aufgerafft habe,  die noch übriggebliebenen 200 Bewerbungsmappen zu vernichten, hat mich motiviert, die Moritat von einer, die auszog, um Fachärztin zu werden, mal aufzuschreiben.  Meine Geschichte ist weißgott kein Einzelfall. Liebe Patienten, wußtet ihr das?
Damals sollen zeitweise bis zu 10.000 Ärzte arbeitslos gewesen sein, was damals, nach meiner Erinnerung, die Öffentlichkeit nicht groß gekümmert hat.

Erinnert habe ich mich jetzt daran, weil ich es endlich geschafft habe, eine Umzugskiste zu öffnen, die die Reste meiner Bewerbungsunterlagen aus 1988 enthält. Damals mußte ich 1.400 Bewerbungen schreiben, um letztendlich eine Zusage zu bekommen: die von der Bundeswehr. Aber der Reihe nach.  Es wird nicht langweilig - versprochen.

Das Foto in meinen 1.400 Bewerbungsunterlagen von 1988.

 

 

Die ersten Schritte

Als ich, ausgebremst durch drei schwere Schübe einer Hepatitis B, 1980 mein Examen in der Tasche hatte, hatte ich bei der Stellensuche eben diese Hepatitis als Klotz am Bein. Die Anerkennung als Berufserkrankung ließ auf sich warten, nicht zuletzt, weil die Klinik, in der ich als Studentin so manche Nachtwache geschoben hatte, mauerte: ich hatte mich auf der Intensivstation bei Tätigkeiten infiziert, die ich als Studentin garnicht hätte ausführen dürfen. Natürlich belastet sowas.

Bei einem Vorstellungsgespräch muß man den zukünftigen Arbeitgeber über solche Probleme informieren. Jedes Vorstellungsgespräch verlief nach dem gleichen Schema: der Herr Chefarzt angetan, doch, als ich mein Gesundheitsproblem erwähnte, blieben die Gesichtszüge stehen: "Sie hören von uns."

Dann bekam ich die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Im Brief des Chefarztes stand: "... ich kann Ihnen schon jetzt zusagen, daß Sie die Stelle bekommen, wenn Sie möchten..." - und das bei Ärzteschwemme? Aber ich fuhr mal hin - an den Rand des Ruhrgebiets: es war ein Krankenhaus mit Bausubstanz aus dem 19. Jahrhundert und hatte, wie mir der Taxifahrer erzählte, keinen guten Ruf. Außerdem lag es in einem sozialen Brennpunkt. Alles in mir sagte nein, aber nich einem Gespräch mit meiner besten Freundin, die meinte, so viele Optionen hätte ich nicht, habe ich zugesagt. Heute ist dieses Krankenhaus übrigens akademisches Lehrkrankenhaus und hat einen exzellenten Ruf - aber das ist eine andere Geschichte. 

Was ich nicht wissen konnte: der Träger hatte einen fähigen, engagierten, jungen Betriebswirt als Verwaltungsdirektor verpflichtet, der mich sozusagen dem Chefarzt "auf's Auge" gedrückt hatte - außer mir und dem Chefarzt hatten die anderen drei Kolleg*innen einen Migrationshintergrund: Jordanien, Rumänien, der Oberarzt aus dem Iran. Was ich erst später erfahren habe: der Oberarzt sah mich und verkündete der Sekretärin: "Die übersteht die Probezeit nicht, dafür werde ich sorgen." Als die Sekretärin meinte, ob er mich nicht möglicherweise unterschätzt, meinte er, das schafft er mit der linken Hand, dafür muß er nicht mal die Rechte aus der Hosentasche nehmen. 
Nur ein paar ausgewählte Gemeinheiten: als ich unter Assistenz meiner rumänischen Kollegin meine erste Ausschabung durchführen sollte, wurde mir ein falscher "Löffel" gereicht, mit dem ich dann die Gebärmutter der Patientin durchbohrt habe. Die zweite: wir hatten sehr viele türkische und wohl auch kurdische Patientinnen, deren Entbindungen oft richig bizarr verliefen - oft lustig, manchmal auch nicht, wegen der mangelnden Aufklärung gab es eine hohe Rate an Totgeburten. Ich hatte damals ein Zimmer im Krankenhaus und das rumänische Kolleginnenherzchen sorgte mit Unterstützung des Oberarztes dafür, daß ich bei allen - neun in meinem ersten Jahr - dort antreten musste. Als ich einer Patientin, die zur Hysterektomie (Entfernung der Gebärmutter) kam, aufklärte, daß die Schmerzen beim Sex mit einem Ehemann, der das, was er für seine ehelichen Rechte hielt, nicht durch eine Hysterektomie zu beheben seien und sie sich dann entschloss, wieder nach Hause zu gehen, bekam ich einen Riesenärger. Damit ich ihr ihren "Katalog" (Verzeichnis der Pflicht-Op's für die Facharztanerkennung) nicht weiter versaue - die Op sollte sie durchführen - wurde mir verboten, Frauen so aufzuklären, daß sie sich gegen den Eingriff entschieden.
To cut a long story short:: danach hatte ich von Frauenheilkunde und Geburtshilfe die Nase voll und bewarb mich auf eine freiwerdende chirurgische Stelle im Haus, die ich letztendlich auch bekam. Für die ganzen Kränkungen, das gesamte Mobbing wurde ich allerdings entschädigt: zusammen mit den Schwestern und Hebammen wurde eine fiese Intrige angezettelt, bei der ich eine tragende Rolle spielte. Das Ergebnis verfestigte meinen Ruf als Marionette des Verwaltungsdirektors und Intrigantin, zumal ich mit dessen freundlicher, äh, Hilfe dann auch die Stelle in der Chirurgie bekam. Mittlerweile hatte ich mir nämlich als Notärztin schon einen guten Ruf erworben, was natürlich auch auf das Krankenhaus zurückstrahlte. Notfallmedizin habe ich übrigens sehr lange weitergemacht, hier zwei meiner Zeugnisse:

Mit den entsprechenden "Vorinformationen" kam ich also auf der Chirurgie an. Der Chefarzt sagte mir beim Vorgespräch, er halte überhaupt nichts von Frauen in der Chirurgie. Er war Truppenarzt an der Ostfront gewesen, die Leitende Abteilungsschwester war als Rotkreuzschwester ebenfalls an der Ostfront, und so durften wir gelegentlich zuhören, wenn die beiden ihre Kriegserlebnisse austauschten. Bei Auseinandersetzungen zwischen Schwester, nennen wir sie Anneliese und einem Assistenten, sogar einem Oberarzt, bekam Anneliese recht. Besonders unbeliebt war, wenn Anneliese Wundbehandlungen durchführte, die sich ihrer Meinung nach gut bewährt hatten - an der Ostfront. Was Anneliese von mir hielt, nun ja: einmal fragte sie den Chefarzt vor versammelter Mannschaft, ob das Haus denn keine anständigen Ärzte bekomme - "daß wir jetzt Frauen nehmen müssen"... ich habe als Einzige nicht gelacht.
Atmosphärisch wurde die Abteilung geführt, wie ein Wehrmachtslazarett - hat sich ja schließlich bewährt - schon an der Ostfront...
Letztendlich konnte ich mich in der Abteilung nicht halten und wechselte das Haus - nur um in den nächsten Intrigantenstadl zu geraten.

Mit dem Zeugnis, daß mir der Herr Chefarzt ausstellte, konnte ich nicht zufrieden sein. Wir gerieten uns so seht in die Haare, daß ich anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen wusste. Der erste Anwalt war dabei, die Sache vor die Wand zu fahren, und fuhr dann selbst - ein. Ins Gefängnis.
ich musste mir einen zweiten Anwalt suchen und mir wurde einer empfohlen, der auch die verfahrensten Fälle wieder geradebiegen könne. ich ging hin, saß im Wartehzimmer, die Tür ging auf - und ich bekam Schnappatmung. Herein traten diverse Herren mit sehr kurzen Haaren, schwarzen Klamotten und entschlossenem Gesichtsausdruck, die an mir vorbei in das Büro des Anwalts - stiefelten. Ich erkannte  unter ihnen Michael Kühnen, Christian Worch und - glaube ich - Thomas Wulff, also schon echte Bigshots. Damals gab es noch kein Google, aber später habe ich erfahren, daß der Herr Anwalt einer der bundesdeutschen Anwälte war, an den sich nicht nur Rechtsextreme wendeten, die richtig in der Tinte saßen, sondern der auch die Rechtsvertreter der Olympia-Attentäter war. Den Gefangenen von Stammheim hat er laut Spiegel eine "Solidaritätsspende" zukommen lassen. 


Also: ich war jung und ich brauchte das Zeugnis - zumal es auf der nächsten Stelle schon sehr komisch rüberkam, daß das letztendlich anderthalb Jahre dauerte. Dem Verwaltungsdirektor fuhr der Schreck in die Glieder als er hörte, bei wem ich jetzt anwaltliche Hilfe suchte, und derer Anwalt schaffte es binnen sechs Woche, daß der Chefarzt sich endlich bequemte, mir das Zeugnis auszustellen, daß ich verdiente:

 

 

Put on your red shoes and dance the blues - oder auch nicht ...

Vielleicht fällt auf, daß der Satz fehlt., daß er meinen Weggang bedauere...

 

Wie gesagt, auch die folgendes Stelle erwies sich als echter Intrigantenstadl. Ich musste sowieso noch Tätigkeit in einem Haus mit "voller" Anerkennung wechseln, was ich dann auch tat. Wieder mit einem Handicap: während mein "Katalog" in Bezug auf Eingriffe am Bewegungsapparat gemessen an der Ausbildungsdauer ganz passabel aussah, klaffte in der sog. "Bauchchirurgie" ein - erklärungsbedürftiges - Loch.
Mittlerweile geriet ich auch in eine echte Sinnkrise. Mein Arbeitgeber hatte mir den sog. "AO-Kurs" spendiert, den Weiterbildungskurs des Vatikans der Unfallchirurgie, der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen, der an der Unfallklinik Bochum stattfand. Wunderschöner Sommertag und im Autoradio spielten sie von David Bowie "Let's dance" - der gastierte nämlich in der Westfalenhalle - und ich dachte mir, was mach ich da überhaupt....  "Nix: put on your red shoes and dance the blues", ich saß an dem entsprechenden Datum zuhause und paukte die entsprechenden Op-Verfahren.

Auf der nächsten, der "voll anerkannten" Stelle hätte ich echt mal Glück haben können: netter Chef, nette Oberärzte, nette Kollegen, nette Schwestern. ich hätte es hinkriegen können - doch ich kriegte es nicht hin. Ich hätte mich nach einem Jahr zur Facharztprüfung melden können. Vor mir war ein afghanischer Kollege dran, der die Prüfung in den Sand setzte - nun ja, man äussert in einer solchen Prüfung eben nicht, daß man nicht einsieht, wieso man das wissen muss, was der Prüfer soeben gefragt hat.Der Chefarzt war reichlich irritiert, unterhielt sich im Chefarztkreis über seine beiden Pflegefälle, den Kollegen und mich. Als die Rede auf mich kam, kündigte der Radiologe an, ihm ein Röntgenbild meiner Wirbelsäule zu zeigen. Durfte er zwar eigentlich nicht, aber sei's drum: "Wie Du siehst, tust Du ihr keinen Gefallen, wenn Du versuchst, sie irgendwie durch die Prüfung zu bringen. Als Chirurgin wird sie bei so einem Befund nicht lange arbeiten können." Das gab den Ausschlag, ich bekam einen Auflösungsvertrag und war nach ein paar Monaten arbeitslos - wie damals 10.000 meiner Kolleg*innen.

 

Arbeitslos als Teil der Ärzteschwemme

Ich brauchte zwingend eine Stelle für Innere Medizin, denn schon für eine Praxiseröffnung brauchte man den Facharzt für Allgemeinmedizin - als "praktischer Arzt" mit dem Minimum von 2 Jahren Erfahrung konnte man keine Praxis mehr eröffnen.
Das gestaltete sich als extrem schwierig, den für eine Anfänger*innenstelle war ich schlicht zu alt. Da der Tarif für Krankenhausärzt*innen sich nach dem Alter richtete, war ich für eine (Wieder-)Anfängerin schlicht zu teuer, oder wie es ein Chefarzt ausdrückte: "Für das Geld, was Sie mich kosten würden, krieg' ich 'ne Oberärztin." 

Außerdem war ja bei so einer langen "chirurgischen" Vorgeschichte klar, daß ich die "innere" Stelle nicht freiwillig anstrebte.

ich wurde - auf dem Arbeitsamt und bei den Vorstellungsgesprächen - behandelt wie der letzte Dreck. ich hörte von Kolleg*innen, die sechs Monate unbezahlte Probearbeit mit siebzig Stunden-Wochen leisten mussten, um dann letztendlich doch nicht genommen zu werden. Die infamste Nummer, die einer meiner Studienkameradinnen passiert ist: sie wurde - sogar bezahlt - für eine halbe Stelle eingestellt. Diese Stelle sollte sie sich mit einem Kollegen teilen und nach Ablauf der Probezeit werde einer von beiden übernommen - es lohne sich also, sich anzustrengen. Die Arbeitszeit auf der "halben" Stelle: für beide 70 Stunden - und angenommen wurde hinterher der Sohn eines Bekannten des Chefarztes, der nach eben jenen sechs Monaten seine Ausbildung beendet hatte. 
Bei mir spielten sich die Kränkungen nur bei den Bewerbungsgesprächen ab: ich erinnere mich an ein Vorstellungsgespräch in Köln, an dessen Ende mir der Herr Chefarzt triumphierend verkündete, er habe überhaupt keine freie Stelle. Es habe ihn lediglich mal interessiert, wer so alles aufläuft, in Zeiten der Ärzteschwemme.

Verständlich, daß viele Kolleg*innen abwanderten: ins Ausland, in andere Berufe, zu Versicherungskonzernen. Übrigens hatten wir damals auch eine "Lehrerschwemme"...

Schließlich bekam ich eine Stelle in der  Inneren Abteilung einer süddeutschen Kurklinik. Dort ging es zwar auch um Medizin - aber man hatte auch die pekuniären Interessen der Besitzer im Auge zu haben. Ich hatte zum Beispiel in meinem Vertrag, ich hätte wirtschaftlich zu arbeiten. Schließlich krachte es: ich sollte als so eine Art "Betriebsarzt" auch für Küchen- und Servicepersonal fungieren und habe mich schlicht geweigert. Es dauerte nicht mehr lange und ich hatte meine erste Abmahnung drin: Verzug bei den Arztbriefen (da war ich nicht alleine), unwirtschaftliches Arbeiten. Einer der Vorwürfe: ich würde überdurschnittlich häufig mit Butterfly-Flügelkanülen Blut abnehmen, anstatt mit Injektionsnadeln. Stimmte sogar. Mit den Dingern trifft man auch dünne Venen sofort, was bei den übergewichtigen, depressiven Patientinnen, die ich zu betreuen hatte, von Vorteil war: stach man bei denen mehr als einmal vorbei, beschwerten die sich und verlangten einen Arztwechsel.
Ich wusste, daß sie mich loswerden wollten, aber ich beschloss, es ihnen nicht zu einfach zu machen und als Gewerkschaftsmitglied suchte ich mir Hilfe bei der ÖTV. Dann kam mir das Schicksal zur Hilfe: ein unverschuldeter Autounfall, und ich war zehn Wochen arbeitsunfähig. Leider, oder so...

Die Zeit nutzte ich, um mich mal wieder zu bewerben: mir fehlte nämlich immer noch ein halbes Jahr Weiterbildung in der "Inneren", das ich an dieser Kurklinik garnicht erwerben konnte. Wie gesagt, das wurden ca. 1400 Bewerbungen, denn ich habe in sieben Bundesländern der alten Bundesrepublik jeden weiterbildungsermächtigten Chefarzt mit einer Bewerbungsmappe beglückt. Zwischenzeitlich hatte man sich, um der Ärzteschwemme Herr zu werden, den Arzt im Praktikum einfallen lassen: man wurde nach dem Studium nicht sofort als Arzt approbiert, sondern musste 18 Monate "Praktikum" ableisten. Nachdem - gottseidank! - ab 2002 die Ärzteschwemme wieder in einen Ärztemangel kippte, wurde diese Ausbeutungsstation - man machte die gleiche Arbeit für ein Drittel des Gehalts - wieder abgeschafft. Mit denen stand ich also ibn Konkurrenz. 1.400 Ablehnungen bedeutet nicht, 1.400 Mappen gepackt, ein Teil der Mappen kam zurück, ich brauchte bloß das Ablehnungsschreiben gegen ein erneutes Bewerbungsschreiben zu tauschen und schon konnte ich die Mappe wieder losschicken - vorausgesetzt, die Mappe war nicht unbrauchbar (gemacht worden). Einige schickten auch nur die Zeugniskopien zurück und behielten das Büromaterial. Noch billiger war es, einfach einen Brief zu schreiben: "...ich habe Ihre Unterlagen behalten und werde Sie benachrichtigen..."  - was im Klartext hieß: - Sie sind mir nicht mal das Porto wert, daß es braucht, um eine ganze Mappe zurückzuschicken. Drei Ablehnungsschreiben habe ich noch gefunden:

Drei von 1.400

ich musste also 1.400 Bewerbungen schreiben, um letztendlich eine Zusage zur bekommen: die bei der Bundeswehr. Meine Geschichte ist kein Einzelfall. Ich denke, viele der Kolleg*innen, die zwischen 1978 und 2004 mit dem Studium fertig wurden, haben ähnliche Erfahrungen, vielleicht sogar schlimmere.

 

Liebe Patient*innen, wusstet ihr das?